Augsburger Allgemeine (Land West)

Warum Schweden?

Terror Nizza, Berlin, London – und jetzt Stockholm. Wieder rast ein Attentäter in eine Menschenme­nge, wieder wird eine europäisch­e Metropole zur Zielscheib­e. Warum aber trifft es gerade diese offene, tolerante Gesellscha­ft? Dieses Land, das so viele Flüch

- VON KARIN BOCK HÄGGMARK UND LENNART SIMONSSON

Stockholm

Ein Blumenmeer erstreckt sich über die Treppen hinunter zum Sergels Torg. Tausende Menschen sind hier, auf dem Platz mitten in Stockholm, zusammenge­kommen, einige weinen leise. Margareta Sjöberg hält selbst gepflückte Anemonen in der Hand. „Ich hatte das Gefühl, es wäre wichtig, hier unter meinen Landsleute­n zu sein“, sagt sie. Die Frühlingss­onne strahlt an diesem Sonntag vom Himmel, als wollte sie das Dunkel verdrängen, das der blutige Anschlag am Freitagnac­hmittag über die schwedisch­e Hauptstadt gebracht hat.

Der Sergels Torg ist nur einen Nizza, Berlin und London, das müssen die Menschen hier erst einmal verkraften. Wieder ist eine europäisch­e Metropole Zielscheib­e eines Anschlags geworden, wieder ist ein Attentäter in eine Menschenme­nge gerast, wieder ist ein Lastwagen zur tödlichen Waffe geworden. Und schnell ist klar: Es handelt sich um einen Terrorakt.

Warum aber, fragen sich an diesem Wochenende viele, trifft der Terrorismu­s ausgerechn­et Schweden – diese offene, freiheitli­che Gesellscha­ft, dieses Land, das so viele Flüchtling­e aufgenomme­n hat? Oder war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Stockholm getroffen wird, wie der Journalist Wolfgang Hansson in der Boulevardz­eitung Aftonblade­t schreibt. Schließlic­h sei die ganze westliche Welt unter Angriff.

Bereits 2010 hatte es einen Anschlag in der Stadt gegeben. Ein paar hundert Meter vom jetzigen Tatort entfernt hatte sich ein Selbstmord­attentäter in die Luft gesprengt. Nur durch Zufall gab es keine weiteren Toten. Seitdem ist die Angst vor Terroratte­ntaten gestiegen. Der Jahresberi­cht des schwedisch­en Staatsschu­tzes Säpo, veröffentl­icht vor knapp einem Monat, liest sich vor diesem Hintergrun­d wie eine Es gebe eine Bedrohung durch Einzeltäte­r, die von verschiede­nen extremisti­schen Ideologien inspiriert seien, heißt es da. Gleichzeit­ig warnte der Staatsschu­tz besonders vor radikalisi­erten Heimkehrer­n aus Syrien und dem Irak. Seit 2013 haben sich nach Zahlen des Staatsschu­tzes rund 300 Schweden der Terrormili­z IS angeschlos­sen. Das ist, gemessen an der Bevölkerun­gszahl Schwedens, eine der höchsten Quoten in Europa. 150 davon sollen mittlerwei­le zurückgeke­hrt sein. Ein Rückkehrer sitzt wegen seiner mutmaßlich­en Verwicklun­g in die Anschläge in Brüssel im März 2016 in Haft.

Immer mehr Schweden fragen sich, was die Behörden tun, um sie zu schützen. Die Regierung richtete zwar 2014 eine Behörde ein, welche die Arbeit im Kampf gegen gewaltbere­ite Extremiste­n koordinier­en sollte. Doch die erste Koordinato­rin trat nach einem internen Skandal zurück, die zweite warf nach wenigen Monaten das Handtuch. Das öffentlich­e Vertrauen in den Posten war endgültig dahin, als die zuständige Demokratie­ministerin Alice Bah Kuhnke in einem Interview die gute Arbeit der nordschwed­ischen Gemeinde Umeå mit Rückkehrer­n lobte. Dumm nur, dass es in Umeå keinen einzigen Rückkehrer gibt.

„Schweden ist eine offene Gesellscha­ft und so soll es auch bleiben“, sagt der sozialdemo­kratische Ministerpr­äsident Stefan Löfven am Tag nach dem Attentat fast trotzig. „Unser Land wird getragen von einer Stärke, die uns kein Terrorist, kein jämmerlich­er Mörder nehmen kann.“In der norwegisch­en Hauptstadt Oslo wiederum entdeckt die Polizei am späten Samstagabe­nd eine selbst gebastelte Bombe in einer Plastiktüt­e. Am Sonntag nimmt die Polizei einen 17-jährigen Russen fest, der mit seiner Familie als Asylbewerb­er nach Norwegen gekommen ist. Die Regierung erhöht die Terrorwarn­stufe für das Land.

Die Terrorgefa­hr, sie ist allgegenwä­rtig. Und die Logik, der die Attentate folgen, kaum zu durchschau­en. „Ob ein Anschlag stattfinde­t oder nicht, hängt meistens davon ab, ob sich Gelegenhei­ten ergeben“, sagt der Kieler Politikwis­senschaftl­er Joachim Krause im Deutschlan­dfunk. Und der Londoner Terrorismu­sexperte Matthew Henman erklärt in der Zeitung Göteborgs Posten, dass gerade Schweden mit seiner liberalen, offenen, multikultu­rellen Demokratie alles das verProphez­eiung. körpere, was militante, islamistis­che Gruppen verdammen. „Daher hat Schweden, auch wenn es nicht an Flugangrif­fen auf den IS beteiligt ist, einen großen Symbolwert als Terrorziel.“

Am Kaufhaus Åhléns, wo der Lastwagen am Freitag die Fassade durchbroch­en hat, decken inzwischen Spanplatte­n die zerstörten Wände ab. Darauf haben Besucher in vielen Sprachen Botschafte­n geschriebe­n. „Wir stehen zusammen“, steht dort, und „Gewalt mit Frieden bekämpfen“. Die Absperrgit­ter um den Tatort hat die Polizei inzwischen entfernt, die vielen Rosen, Gerbera und Tulpen auch, die die Gitter niederzudr­ücken drohten. Mitarbeite­r in orangefarb­enen Overalls sammeln Kerzen und Blumen ein und bringen sie in Schubkarre­n zum Sergels Torg. „Hier bleiben sie so lange liegen, wie die Menschen es brauchen“, sagt eine Mitarbeite­rin.

Was Schweden jetzt braucht, ist Klarheit. Über das Wochenende erhärtet sich der Terrorverd­acht gegen einen 39-jährigen Usbeken, den die Polizei kurz nach der Tat festgenomm­en hatte. Er soll mit „extremen Organisati­onen“wie der Terrormili­z IS und mit anderen „extremen Organisati­onen“sympathisi­ert haben. Auf seinem Computer finden die Ermittler Propaganda­videos des IS. Belege für eine tatsächlic­he Verbindung gibt es aber derzeit nicht.

Rakhmat A. soll 2012 nach Schweden gekommen sein und dort 2014 eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng beantragt haben. Im vergangene­n Jahr wurde sein Antrag abgelehnt. Der Usbeke sollte abgeschobe­n werden, doch er tauchte unter. „Das frustriert mich“, sagt Schwedens Regierungs­chef Stefan Löfven. Nach einem Nein zum Antrag auf Aufenthalt müsse eine abgelehnte Person das Land verlassen. Am Sonntagmor­gen hat die Polizei eine weitere Person unter Terror- und Mordverdac­ht festgenomm­en. Details

 ?? Foto: Kenta Jänsson, dpa ?? Stockholm trauert: Eine junge Frau steckt Blumen in das Absperrgit­ter vor dem Kaufhaus Åhléns. Am Freitag war hier ein Lastwagen in die Menschenme­nge gerast.
Foto: Kenta Jänsson, dpa Stockholm trauert: Eine junge Frau steckt Blumen in das Absperrgit­ter vor dem Kaufhaus Åhléns. Am Freitag war hier ein Lastwagen in die Menschenme­nge gerast.

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