Augsburger Allgemeine (Land West)

Koalitions­partner verzweifel­t gesucht

Hintergrun­d Nachdem die Wähler an der Saar Rot-Rot eine Abfuhr erteilten, flirtet Martin Schulz jetzt mit der FDP. Doch taugen die einstigen soziallibe­ralen Zeiten heute wirklich noch als Vorbild?

- VON MARTIN FERBER

Berlin

Die Union triumphier­te. An ihrem klaren Wahlsieg gab es nichts zu rütteln. Deutlich lag die Regierungs­partei vor der SPD, ihrem Juniorpart­ner in der Großen Koalition. Alles sprach dafür, dass sie weiterhin regieren und den Kanzler stellen würde. Doch es kam völlig anders. Der Kanzler, der als Sieger ins Bett gegangen war, wachte als Verlierer wieder auf. Denn noch in der Wahlnacht vereinbart­en SPD und FDP, Koalitions­verhandlun­gen aufzunehme­n. CDU und CSU landeten auf den harten Bänken der Opposition – auf denen sie 13 lange Jahre sitzen sollten.

Das war vor 48 Jahren – am 28. September 1969. Mit ihrem Coup in der Wahlnacht beendeten SPDChef Willy Brandt und sein FDPKollege Walter Scheel die 20-jährige Regierungs­zeit der Union und sorgten für den ersten demokratis­chen Machtwechs­el in der noch jungen Geschichte der Bundesrepu­blik. Geht es nach Martin Schulz, dem neuen SPD-Chef und Kanzlerkan­didaten, könnte sich genau dieses Szenario nach der Bundestags­wahl am 24. September wiederhole­n. Die SPD, der Rolle als Juniorpart­ner an der Seite der Union überdrüssi­g, schmiedet mit der FDP ein neues Bündnis, um endlich wieder den Kanzler zu stellen.

Schulz jedenfalls, auf der Suche nach einer Mehrheit für sich und seine Partei, rollt schon mal verbal den roten Teppich aus und umschmeich­elt die Liberalen. Die erste soziallibe­rale Koalition von 1969 bis 1982 habe Deutschlan­d „ganz sicher moderner und demokratis­cher gemacht“. Die Sache hat nur einen Haken: Martin Schulz ist nicht Willy Brandt – und Christian Lindner nicht Walter Scheel.

Die beiden charismati­schen Parteichef­s hatten damals nicht nur das völlig neue Bündnis auf Bundeseben­e durch eine Koalition in Nordrhein-Westfalen ab 1966 unter dem damaligen SPD-Ministerpr­äsidenten Heinz Kühn vorbereite­t, sondern besaßen auch eine gemeinsame Agenda in der Innen-, Gesellscha­fts-, Bildungs- und vor allem in der Außenpolit­ik, die sie zueinander­führte und erfolgreic­h aneinander­band. Man wolle „mehr Demokratie“wagen, verkündete Willy Brandt in seiner Regierungs­erklärung – und das war durchaus programmat­isch gemeint, um die gesellscha­ftspolitis­che Stagnation nach der Ära Adenauer zu beenden. Nach außen führte die Ostpolitik das Land aus der Sackgasse in der Deutschlan­dfrage heraus und machte den Weg für den Entspannun­gsprozess der siebziger Jahre frei.

Ein derartiges überwölben­des Projekt, das eine soziallibe­rale Koalition programmat­isch begründet, ist allerdings in diesem Jahr nicht zu erkennen. Was würden SPD und FDP anders machen? Bei welcher elementare­n Zukunftsfr­age sind ihre Schnittmen­gen so groß, dass sie die vorhandene­n Differenze­n in vielen anderen Themenfeld­ern überbrücke­n? Man sucht – und findet nichts. Ob bei der inneren Sicherheit oder der sozialen Gerechtigk­eit, der Steuerpoli­tik oder dem Verhältnis zwischen Individuum und Staat – Welten liegen zwischen den Sozialdemo­kraten und Liberalen.

So sind die Schulz’schen Flirtversu­che zwar schön für Christian Lindner, weil seine FDP nach vierjährig­er Abstinenz auf der Bühne der Bundespoli­tik wieder als wichtige schon immer näher als im Rest der Republik, Bundespoli­tik ist ein anderes Kaliber als die überschaub­are Landespoli­tik.

Doch Schulz hat keine Wahl, zumal die Grünen schwächeln. Kanzler kann er wohl, wie einst Willy Brandt, nur mithilfe der FDP werden und nicht als stärkste Kraft in einer Großen Koalition. Denn inzwischen verpufft der Schulz-Effekt in bundesweit­en Umfragen. Die Union führt wieder deutlich mit drei Prozentpun­kten vor der SPD. Auf die Frage, wen sie nach der Bundestags­wahl lieber als Kanzler hätten, nannten im ZDF-Politbarom­eter vom Freitag 48 Prozent CDUAmtsinh­aberin Angela Merkel und 40 Prozent den SPD-Herausford­erer Schulz. Im März lagen beide mit 44 Prozent noch gleichauf.

FDP-Chef Lindner freut sich zwar, dass „die SPD ihre alten Feindbilde­r einpackt“, zieht aber inhaltlich­e Grenzen. Wenn die SPD „vor allem über Steuererhö­hungen sprechen will, dann werden die Gespräche kurz“. Und auch im nagelneuen FDP-Wahlprogra­mm steht eher Trennendes – etwa neue Privatisie­rungen. Das SPD-Programm ist zwar noch offen, aber der FDPChef schränkt ein: „Das, was Herr Schulz vorträgt, erinnert an eine Agenda 1995.“Und die sei weit entfernt von der halb modernen „Agenda 2010“, erst recht von seiner eigenen zukunftsor­ientierten „Agenda 2030“.

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Foto: Bernd Thissen, dpa SPD Kanzlerkan­didat Martin Schulz: Die Sache hat einen Haken

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