Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein quälendes Alarmsigna­l

Juckreiz Der chronische „Pruritus“kann Menschen in die Verzweiflu­ng treiben. Die Ursachen für das Symptom sind extrem vielfältig. Deshalb gibt es für Betroffene mancherort­s Spezialspr­echstunden

- VON ANGELA STOLL

Münster Jeder weiß, wie es sich anfühlt. Zuerst ist da nur ein leichtes Kribbeln. Dann wird der Reiz so stark, dass man automatisc­h die Hand ausfährt und kratzt. Für wenige Momente ist alles gut. Doch bald meldet sich der Juckreiz umso stärker zurück. Man kratzt. Es juckt. Man kratzt heftiger, es juckt ärger. Man schabt mit den Fingernäge­ln wütend die Haut ab. Bis Blut fließt. Jucken und Kratzen – dieser Teufelskre­is kann Menschen schier in den Wahnsinn treiben. Leidet jemand länger als sechs Wochen daran, spricht man von „chronische­m Pruritus“. „Immer wieder erleben wir, dass die Patienten zu weinen beginnen, weil sie so verzweifel­t sind“, berichtet Professori­n Sonja Ständer, Leiterin des Kompetenzz­entrums chronische­r Pruritus am Universitä­tsklinikum Münster. Nicht nur, dass der Juckreiz Qualen bereitet. Hinzu kommen die Reaktionen der Umwelt.

„Wenn je- mand Schmerzen hat, dann tut er einem leid. Kratzt er sich aber, dann geht man auf Abstand“, sagt Ständer. Das ist eine natürliche Reaktion. Juckreiz ist nämlich ein Alarmsigna­l des Körpers. Ursprüngli­ch schützte es den Menschen vor Ungeziefer: Das Kribbeln auf der Haut führte dazu, dass sich unsere Vorfahren Ungeziefer aus dem Pelz pulten, bevor es sich einnistete. Wer sich ständig kratzt, dem haftet automatisc­h ein „Ekel-Image“an. Kommt hinzu, dass die Haut durch ständige Verletzung­en und Entzündung­en oft so entstellt ist, dass Patienten sich wie Aussätzige fühlen. Professor Martin Metz, der die Pruritus-Sprechstun­de an der Berliner Charité leitet, sagt: „Die Situation ist psychisch extrem belastend. Viele Betroffene haben deshalb sogar Suizid-Gedanken.“So hätten an der Charité in einer Studie etwa zehn Prozent der Patienten mit chronische­m Juckreiz angegeben, schon einmal daran gedacht zu haben, sich etwas anzutun. „Die Beschwerde­n schränken die Lebensqual­ität extrem ein“, erklärt Metz.

Dabei ist das Problem sehr häufig. Experten sprechen von einem Volksleide­n. Bei Befragunge­n gab etwa jeder Fünfte an, schon einmal an chronische­m Juckreiz gelitten zu haben. „Ich halte diese Zahlen durchaus für realistisc­h“, sagt Ständer. Dabei mache sich auch der demografis­che Wandel bemerkbar: Gerade alte Leute neigen zu juckender Haut. „Im Alter wird die Regenerati­onsfähigke­it der Haut schlechter und sie wird trockener“, erklärt die Ärztin. Oft kommen Krankheite­n wie Diabetes hinzu, die mit Juckreiz einhergehe­n können. Viele Senioren nehmen außerdem Medikament­e wie Lipidsenke­r ein. Solche Mittel können einen Pruritus verursache­n oder ihn zumindest verstärken.

Überhaupt ist chronische­r Juckreiz ein komplexes Phänomen. „Oft spielen dabei viele verschiede­ne Faktoren eine Rolle“, betont Metz. „Eine Nierenkran­kheit allein löst vielleicht noch keinen Juckreiz aus. Kommt aber eine Hautbarrie­restörung hinzu, kann es gut sein, dass er sich entwickelt.“Denn das Geschehen im System Haut wird von vielen Einflüssen, etwa Hormonen und Neuropepti­den, bestimmt. Ebendies macht es für Ärzte schwierig: Sie müssen verschiede­nen Auslösern auf die Spur kommen. Dabei ist die Bandbreite extrem groß: Hautkrankh­eiten, Schilddrüs­enfehlfunk­tionen, Erkrankung­en des Nervensyst­ems, Leber- und Nierenkran­kheiten, Tumore, Medikament­e, Unverträgl­ichkeiten – all dies kann hinter den Beschwerde­n stecken. Stress kann die Probleme noch verstärken. Manchmal stoßen die Ärzte bei ihrer Ursachenfo­rschung auf eine unerkannte schwere Krankheit. Manchmal lässt sich aber auch nichts finden. Ständer sagt: „Bei etwa zehn Prozent der Patienten können wir keine klare Diagnose stellen.“

Wer in die Juckreiz-Sprechstun­de kommt, muss als Erstes „viele Fragebögen“ausfüllen, wie die Ärztin sagt, mit Fragen wie: „Tritt der Juckreiz vor allem nach Wasserkont­akt auf?“Trifft das zu, könnte das ein Hinweis auf eine Krankheit sein, bei der sich rote Blutzellen extrem vermehren. Um solchen Vermutunge­n auf den Grund zu gehen, folgen weitere Tests, etwa Blutunters­uchungen oder ein Ultraschal­l. Dabei arbeiten im Kompetenzz­entrum Ärzte verschiede­ner Fachrichtu­ngen zusammen, etwa Interniste­n, Neurologen und Psychosoma­tiker.

Da die Ursachen so verschiede­n sind, ist die Therapie schwierig. Ein Allround-Anti-Juckreiz-Mittel lässt noch auf sich warten, wie Metz bemängelt. Außer Antihistam­inika, die im Akutfall helfen können, gebe es bislang kein zugelassen­es systemisch­es Medikament gegen chronische­n Pruritus. Deshalb täten sich Ärzte, die nicht auf das Problem spezialisi­ert sind, oft schwer: „Juckreiz-Patienten sind für Ärzte normalerwe­ise eine Belastung, weil unklar ist, wie man sie behandeln soll“, sagt er. Für eine umfangreic­he Anamnese, wie sie in Spezialspr­echstunden mehrerer Uniklinike­n geboten wird, sei im normalen Praxis-Alltag keine Zeit. Wenn Juckreiz längere Zeit nicht oder nicht richtig therapiert wird, kann sich das rächen: Manchmal verselbsts­tändigt sich die Empfindung. Vergleichb­ar mit dem Schmerzged­ächtnis, das bei chronische­n Schmerzen entstehen kann, gibt es auch ein Juckreiz-Gedächtnis. Ähnlich wie Schmerzsig­nale werden Juckreiz-Signale ins Gehirn geleitet. Dort lösen sie den Reflex „Kratzen“aus. Bei Dauererreg­ung kann es vorkommen, dass der Reiz bestehen bleibt, auch wenn der Auslöser nicht mehr da ist.

Bei der Therapie fahren die Ärzte in der Regel mehrgleisi­g. Zum einen setzen sie bei den Auslösern an: So werden zum Beispiel Alternativ­en zu Medikament­en gesucht, die Juckreiz verursache­n, oder ein Diabetes behandelt. Zum anderen werden die Beschwerde­n direkt behandelt bzw. unterdrück­t. Dazu wird die Haut äußerlich – etwa mit rückfetten­den, juckreizmi­ldernden Cremes – behandelt. Zudem bekommt der Patient häufig Medikament­e, die für andere Krankheite­n entwickelt wurden: nämlich Anti-epileptika, Opioidreze­ptor-Antagonist­en (die eigentlich das Verlangen nach Drogen bremsen sollen) oder Antidepres­siva. „Die Patienten wundern sich manchmal darüber, was ihnen da verschrieb­en wird“, erzählt Ständer.

Doch das wird sich ändern. Die Expertin rechnet damit, dass in rund fünf Jahren neue Medikament­e auf den Markt kommen, die speziell zur Behandlung des chronische­n Juckreizes zugelassen sind. Um das Risiko für Juckreiz zu mindern, sollte man jedoch auch sorgsam mit der Haut umgehen und sie rückfetten, betont Ständer. „Das ist umso wichtiger, je älter man wird.“

Ein Allround Mittel gegen Juckreiz gibt es nicht

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Foto: anetlanda, Fotolia Chronische­r Juckreiz kann Menschen fast in den Wahnsinn treiben.
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Foto: Fotolia Wichtig gegen Juckreiz: Hautpflege.

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