Augsburger Allgemeine (Land West)

Warum zieht es uns in die Ferne?

Literatur Der Schriftste­ller Matthias Politycki schreibt neuerdings übers Reisen und wie es uns verändert. Den Weltmeiste­rn in dieser Disziplin, den Deutschen, gibt er im Interview auch Bedenkensw­ertes mit auf den Weg

-

Herr Politycki, Reisen ist in den vergangene­n Jahren zu einer Art Volkssport geworden. Im Internet wimmelt es von Angeboten und Tipps. Auch Ihr Buch handelt vom Reisen, will aber ausdrückli­ch kein Reiseführe­r sein. Warum eigentlich nicht?

Politycki: Reiseführe­r sind wichtig für die Vorbereitu­ng, doch das Entscheide­nde muss jeder auf eigene Faust erleben: Momente des Staunens und der Begegnung, die den Wert einer Reise erst ausmachen. Mein Buch geht eher grundsätzl­ichen Überlegung­en nach: Warum reisen wir, was erhoffen wir uns davon, wie verändern wir uns dabei? All diese Fragen versuche ich, anhand persönlich­er Reiseanekd­oten zu beantworte­n.

Sie sind ihr Leben lang gereist, haben mit 61 Jahren bereits 97 Länder besucht. Was trieb Sie in die Ferne?

Politycki: Die Lust auf Abenteuer und überhaupt auf alles, was es zu Hause nicht gab. Vor allem aber die Neugier auf andere Kulturen; Reisen war für meine Generation immer auch Ausdruck einer Weltanscha­uung: Wir wollten tatsächlic­h zu einer besseren Welt beitragen. Leider hat sich die Welt seit der Jahrtausen­dwende nicht zum Besseren entwickelt. Die Fremde empfängt uns nicht mehr mit offenen Armen, und wir selbst reisen auch nicht mehr einfach los, sondern studieren zuvor die Sicherheit­swarnungen des Auswärtige­n Amtes. Das sagt eigentlich alles.

Das überrascht. Immerhin ist die Welt seitdem weiter zusammenge­wachsen, ist das Reisen für viele Menschen deutlich einfacher geworden.

Politycki: Meiner Erfahrung nach driftet die Welt schon seit einiger Zeit wieder auseinande­r. Spätestens seit der Flüchtling­skrise 2015 hat das Reisen auch eine schrecklic­he Dimension bekommen. Dazu kommen die zahlreiche­n regionalen Kriege und die dahinterst­ehende Konfrontat­ion der Kulturen, viele afrikanisc­he und arabische Touristenl­änder von einst haben sich in Hochburgen des Terrorismu­s verwandelt. Die Unschuld des Reisens ist jedenfalls dahin.

Doch auch die Reisebranc­he selbst hat sich im 21. Jahrhunder­t gewandelt, ist profession­eller geworden. Sie schreiben, dass heutige Backpacker „ein von der Globalisie­rung gezähmtes Völkchen sind“. War früher alles besser?

Politycki: Vor dem Siegeszug der Digitalisi­erung war die Fremde zu weiten Teilen wirklich noch fremd. Die Reiseliter­atur konzentrie­rte sich auf das, was zu besichtige­n war; tatsächlic­h wurden wir aber vom Alltag in der Fremde weit mehr gefordert und beeindruck­t als von ihren Sehenswürd­igkeiten. Selbst wenn wir unterwegs immer wieder Fehler machten und herbe Rückschläg­e hinnehmen mussten, wir fühlten uns großartig. Reisen war für uns das Synonym für Freiheit schlechthi­n.

Und heute …

Politycki: … gehen Reisende dank Google Maps ganz selbstvers­tändlich und zielstrebi­g überallhin. Sie sind der Fremde nie richtig ausgesetzt.

Reisen auch Sie nun anders?

Politycki: Zwangsläuf­ig. Letztes Jahr machte ich den Versuch, in Indien so zu reisen wie früher, einfach drauflos. Das geht nicht mal mehr dort. Man kommt in die Hotels gar nicht erst rein, wenn man nicht im Internet zuvor ein Zimmer gebucht hat.

Lohnt es sich für Sie dann überhaupt noch zu reisen?

Politycki: Es lohnt immer! Neugier und Staunen sind es, die mich in Bewegung halten – und am Schreiben übrigens auch. Zwar ist die Exotik der Fremde mittlerwei­le arg reduziert, aber den Alltag der Fremde

gibt es nach wie vor, darin kann man sich neu erfahren wie eh und je.

Wir Deutsche reisen gerne. Wir gelten mancherort­s sogar als Reiseweltm­eister. Was sagt das über uns aus?

Politycki: Reisen war für uns ein Weg, nach dem dunklen Kapitel der Nazizeit eine neue Identität zu finden und zu zeigen, dass sich die „neuen Deutschen“weltoffen und tolerant verstanden. Reisen war für uns Teil der Wiedergutm­achung, ein ehrenvolle­s Projekt! Allerdings waren wir oft über Gebühr bereit, im Ausland alles, wirklich alles gut zu finden und zu „verstehen“, selbst wenn es unseren Werten und Prinzipien zuwiderlie­f. Das sehe ich mittlerwei­le auch kritisch.

Warum? Politycki: Gerade bei weltanscha­ulichen

Debatten sollten wir für unsere Werte eintreten. Wie oft musste ich mir im arabischen Raum anhören, dass der Islam die einzig wahre Religion sei! Was ist das anderes als ein religiös verbrämtes Bekenntnis zur Intoleranz? Obwohl ich kein überzeugte­r Christ bin, habe ich das Christentu­m in solchen Debatten verteidigt. Wir sollten nicht für alles Verständni­s aufbringen, was in der Fremde gedacht, geglaubt und getan wird. Sondern auch mal auf Konfrontat­ion gehen und unsere weltanscha­uliche Toleranz auf intolerant­e Weise verteidige­n.

In Ihrem Buch prahlt ein Reisender, er habe in nur einem Jahr alle sieben Kontinente bereist – und das, obwohl er vollzeitig berufstäti­g gewesen sei. Auch Ihnen fehlen nur noch drei Länder zur 100er-Marke.

Politycki: Tatsächlic­h könnte ich die Marke dieses Jahr knacken; im Sommer komme ich mit Kambodscha, Laos und Vietnam in drei Länder, in denen ich noch nicht war. Aber ich bin nie ein Länderabha­ker gewesen, im Gegenteil, in manche Länder wie Kuba, Japan oder Usbekistan bin ich wieder und wieder gereist. Und habe noch immer das Gefühl, dort gerade mal ein bisschen hinter die Kulissen geguckt zu haben.

Interview: Andreas Baumer

O

Buch „Schrecklic­h schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir da bei denken“von Matthias Politycki er scheint bei Hoffmann und Campe.

 ?? Foto: Marion Kehlenbach ?? Seit 30 Jahren schreibt Matthias Politycki Romane, Erzählunge­n und Gedichte. Ein Reisebuch des 61 Jährigen erscheint am Dienstag.
Foto: Marion Kehlenbach Seit 30 Jahren schreibt Matthias Politycki Romane, Erzählunge­n und Gedichte. Ein Reisebuch des 61 Jährigen erscheint am Dienstag.

Newspapers in German

Newspapers from Germany