Augsburger Allgemeine (Land West)

Wer will noch nach Istanbul?

Die Metropole am Bosporus ist zur Osterzeit ein Touristenm­agnet. Eigentlich. Aber nach dem Terror, bei angespannt­en internatio­nalen Beziehunge­n und in der heißen Phase der Abstimmung über Erdogans Präsidials­ystem ist jetzt alles hier ganz anders

- Von Susanne Güsten

Selbst vor der Hagia Sophia steht niemand an Nur die Araber geben im Basar noch richtig Geld aus

Zivilpoliz­isten patrouilli­eren vor der Blauen Moschee, nahe der Hagia Sophia stehen Anti-Terror-Kräfte mit Maschinenp­istolen und an den Eingängen zum Großen Basar sind Wachposten mit Metalldete­ktoren postiert. Sicherheit wird in diesem Frühjahr groß geschriebe­n in Istanbul, aber einladende­r wird die Altstadt davon nicht. Eindringli­ch mustern die Zivilstrei­fen die Gesichter der Passanten auf dem Hippodrom, wo im vergangene­n Jahr ein Dutzend deutsche Touristen von einer Bombe zerrissen wurden. Viel haben sie nicht zu tun, denn außer der einen oder anderen Reisegrupp­e aus China lassen sich in diesen Tagen nur wenige Touristen hier blicken.

Sechs verheerend­e Terrorangr­iffe gab es im vergangene­n Jahr in Istanbul – vom Bombenansc­hlag auf die deutschen Touristen in der Altstadt über Anschläge auf die Flaniermei­le, den Flughafen und ein Fußballsta­dion bis zum Angriff auf eine Neujahrsfe­ier in einem Nachtklub am Bosporus. Zählte Istanbul im vorletzten Jahr noch zu den beliebtest­en Zielen der Welt, so brach der Tourismus im vergangene­n Jahr schon dramatisch ein – und dieses Jahr lässt sich noch schlechter an. Die Preise sind drastisch gesunken: Ein Zimmer, das vor drei Jahren noch 200 Euro die Nacht kostete, ist nun für unter 70 Euro zu haben. Trotzdem lassen sich kaum westliche Besucher von den Tulpen anlocken, die im April überall in Istanbul aus den Rabatten leuchten.

„Ha, Ostern, da war früher immer was los hier“, sagt ein Reiseführe­r, der vor der Hagia Sophia steht und raucht. „Die Warteschla­nge ging hier los und dann hinter dem Zaun vorbei um die Kuppel da hinten bis zum Hamam, dem Badehaus“, erzählt Faruk und zeigt mit der Zigarette zu dem menschenle­eren Park zwischen dem Museum und der Blauen Moschee. „Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine Stunde lang vor der Hagia Sophia angestande­n habe.“Nun steht hier niemand mehr an. Eine chinesisch­e Besuchergr­uppe marschiert hinter ihrer Fahne vorbei, dann wird es wieder still auf dem Platz vor der berühmtest­en Sehenswürd­igkeit in der Türkei. So still, dass ein Zivilpoliz­ist auf Faruk aufmerksam wird und herüberkom­mt, um zu fragen, was er hier zu suchen habe.

Faruk hat gerade eine private Führung gemacht in der Hagia Sophia für einen Geschäftsm­ann, der in Istanbul zu tun hatte und die letzten Stunden vor seinem Flug füllen wollte. Gelegentli­ch erwischt der erfahrene Reiseführe­r noch so einen Job, doch damit ist er die Ausnahme. „95 Prozent meiner Kollegen bekommen überhaupt nichts mehr“, erzählt er. „Der Tourismus ist komplett ausgefalle­n – es gibt einfach nichts mehr.“Um mehr als ein Viertel stürzte die Zahl der Besucher in Istanbul im vergangene­n Jahr nach offizielle­n Angaben ab, aber Faruk und seine Kollegen glauben den Statistike­n nicht. „Klar, Araber kommen noch“, sagt Faruk. „Aber Europäer, Amerikaner, westliche Touristen sieht man fast überhaupt nicht mehr.“

Vom Restaurant des Hotel And aus hat man eine besonders schöne Aussicht auf die Hagia Sophia – hier kehrten Faruk und viele seiner Kollegen immer gerne mit ihren Gästen auf einen Kaffee ein. Doch heute sind nur drei der weiß gedeckten Tische besetzt – zwei von chinesisch­en Pärchen und einer von UN-Mitarbei- tern, die zu einem Arbeitster­min in der Stadt sind. Miserabel liefen die Geschäfte, erzählt Oberkellne­r Cemal auf Faruks Nachfrage. „Ich arbeite seit 23 Jahren hier, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“Von den zwölf Kollegen im Kellnertea­m seien neun Mann bereits entlassen und von den fünf Köchen seien auch nur noch zwei übrig. Im Hotel seien zwar noch ein paar Zimmer belegt, aber für den kommenden Monat gebe es keine einzige Reservieru­ng.

„Und das ist überall so, nicht nur bei uns“, sagt Cemal. „Im ganzen Viertel machen die Restaurant­s abends um neun Uhr zu, weil keiner kommt.“Verzweifel­t schüttelt er den Kopf: Ein Freund bei einer Reiseagent­ur habe ihm gesagt, dass vor 2019 keine Besserung zu erwarten sei. „Möchten Sie ein Hotel kaufen?“, witzelt Ergin, ein Kollege von Faruk, der sich dazusetzt. „Davon gibt es hier viele billig zu haben – jeder will verkaufen.“Auch Ergin weiß nicht mehr ein oder aus, obwohl er außer auf Deutsch und Englisch auch auf Chinesisch führt. Seit fast 30 Jahren sei er im Tourismus, erzählt der 45-Jährige, doch nun könne er seine Familie nicht mehr ernähren. „Wir können uns die ei- gene Stadt nicht mehr leisten, denn die Mieten sind hier teuer.“

Ergin hat sich auf Stellen im Ausland beworben – fast hätte er einen Job in der Schweiz bekommen, doch dann scheiterte es an der Arbeitsgen­ehmigung. Ein Freund von ihm hat seinen Teppichlad­en dichtgemac­ht und wandert aus nach Kanada, ein anderer zieht nach Israel, erzählt er. Beide rechneten damit, dass auch in den nächsten Jahren im türkischen Tourismus kein Geld zu verdienen sein werde. „Etwas aufzubauen ist schwer, es zu verlieren ist leicht“, sagt Ergin, der den Tourismus mit einem Gebäude vergleicht: „Wir hatten 40 Stockwerke hoch gebaut, aber nun sind nur noch fünf übrig – die anderen sind eingestürz­t.“Bis die 35 Stockwerke wiederaufg­ebaut seien, würden mindestens fünf Jahre vergehen, schätzt er und sieht sich nach anderer Arbeit um: Wer einen Tipp habe, möge sich melden, denn er habe Kinder zu ernähren.

Gespenstis­ch ruhig ist es auch auf dem Großen Basar, wo sonst immer Gedränge und Geschrei herrschte. „Wem sollte ich hier was zurufen?“, fragt ein Basargehil­fe, der flotte Sprüche in fünf oder sechs Sprachen machen kann und nur noch selten Gelegenhei­t dazu hat. Der Strom von Menschen, der seit Jahrhunder­ten durch den Basar fließt, ist zu einem Rinnsal verkümmert, und nur selten treibt ein westlicher Tourist vorbei. Zwischen den Geschäften klaffen Lücken, die mit Planen verdeckt sind – überall dort, wo Geschäfte aufgegeben und geschlosse­n haben.

Vor der Teppichhan­dlung „Nomad-Art“stehen Ladenbesit­zer Yahya und seine beiden Verkäufer und hängen ein Türschild auf. Eine Neueröffnu­ng? Nein, erklärt der Basarhändl­er, er habe sich verkleiner­n müssen und sei aus seinem großen Geschäft an einer Hauptader in diesen kleineren Laden in einer Seitengass­e umgezogen. Das Handtasche­nSortiment des Vormieters hat er mit übernehmen müssen, denn der hat ganz aufgehört. Yahya will dagegen noch nicht aufgeben, obwohl er seit Monaten draufzahlt, denn der Mittfünfzi­ger arbeitet schon sein Leben lang als Teppichhän­dler im Basar – und er hängt an seinem Beruf.

Einen handgeknüp­ften Seidentepp­ich rollt Yahya aus und erläutert, woran man dessen Qualität erkennt. 15 000 Lira kostet so ein Teppich, das waren vor einem Jahr noch 5000 Euro und sind nun 4000 Euro. Früher hat er drei bis vier dieser Teppiche am Tag verkauft, sagt Yahya – „heute vielleicht noch einen im Jahr“. Die beiden Verkäufer und der Lehrling bemühen sich um Geschäftig­keit, was schwierig ist, denn zu tun gibt es nichts. Den ganzen Tag über kommen genau vier potenziell­e Kunden in den Laden: eine palästinen­sische Familie, ein Paar aus Saudi-Arabien, eine junge Frau aus Chile und zwei Frauen aus Uruguay. Die Palästinen­ser gehen wieder, den anderen Interessen­ten drängen die Verkäufer mit viel Tee und Scherzchen ein paar Tücher und Kissenbezü­ge auf.

„Das war 30 Prozent unter dem Einkaufspr­eis“, bemerkt Ladenbesit­zer Yahya, als die Uruguayeri­nnen zufrieden davongezog­en sind. Unter Einkaufspr­eis? „Ich brauche Bargeld, um die Verkäufer zu bezahlen“, sagt der Basarhändl­er. „Dafür gehen inzwischen die Lagerbestä­nde drauf.“Die Angestellt­en rechnen es ihrem Chef hoch an, dass er sie noch nicht entlassen hat, wie es so viele andere Händler mit ihren Mitarbeite­rn getan haben. Gut geht es ihnen deshalb aber nicht, sind sie doch auf die Verkaufsko­mmissionen angewiesen, die es auf das Grundgehal­t draufgibt. „Ich habe die Miete schon im letzten Monat nicht mehr bezahlen können“, sagt einer der beiden Verkäufer. „Wir haben ein sieben Monate altes Baby – ich weiß nicht mehr ein noch aus.“

Der Tourismus in Istanbul stecke nicht nur in einer vorübergeh­enden Krise, meinen die Beschäftig­ten der Branche, sondern in einem grundlegen­den Wandel. Noch im Jahr 2015 legten fast 500 Kreuzfahrt­schiffe in Istanbul an und überflutet­en die Altstadt mit spendablen Amerikaner­n; heute macht nur noch gelegentli­ch ein kleineres Schiff hier fest. Im Gewürzbasa­r am Goldenen Horn sind die meisten Geschäfte heute von Syrern bemannt, die vor dem Krieg in die Türkei geflohen sind und nun Gewürze und Gold an arabische Touristen verkaufen – die einzigen Urlauber, die in Istanbul noch richtig Geld ausgeben. „Das Problem ist, dass der Tourismus in der Türkei seit Jahrzehnte­n auf die westliche Welt ausgericht­et ist“, sagt Reiseführe­r Ergin. „Aber damit ist es jetzt vorbei.“

 ?? Fotos: Getty (2), afp, dpa ?? Am Sonntag stimmt die Türkei über das Präsidials­ystem ab. Porträts von Präsident Erdogan sind in Istanbul allgegenwä­rtig – „Evet“heißt ja und der Rest bedeutet: „Die Worte und Entscheidu­ngen gehören der Nation.“
Fotos: Getty (2), afp, dpa Am Sonntag stimmt die Türkei über das Präsidials­ystem ab. Porträts von Präsident Erdogan sind in Istanbul allgegenwä­rtig – „Evet“heißt ja und der Rest bedeutet: „Die Worte und Entscheidu­ngen gehören der Nation.“

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