Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Mafia Mord öffnete ihm die Augen

Italien Scampia, das Viertel im Norden Neapels, ist seit dem Bestseller „Gomorrha“weltweit für Drogenhand­el und Gewalt berüchtigt. Francesco Verde wuchs in diesem Sumpf auf. Er raubte, stahl und leitete junge Kriminelle an. Bis zwei von ihnen seine Schwes

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

„Wer hier aufwächst, trägt sein ganzes Leben einen Stempel mit sich herum.“ Francesco Verde, früherer Straßenräu­ber „Wir wollen Scampia mit dem Blick derjenigen erzählen, die hier geblieben sind.“ Daniele Sanzone, Sänger der Band ’A67

Neapel

Man muss Francesco Verde genauer ansehen, um zu erkennen, dass er ein gezeichnet­er Mensch ist. Eine Narbe zieht sich von der Stirn bis auf seine Nase. Auf dem linken Arm trägt er die Spur eines anderen tiefen Schnitts. Das sind die sichtbaren Verletzung­en aus seiner Vergangenh­eit als Dieb und Räuber. Dann ist da noch eine viel tiefere Wunde, sie hat mit Gelsomina zu tun. Es ist bald 13 Jahre her, dass Francesco Verdes Schwester von der Camorra gefoltert, erschossen und schließlic­h verbrannt wurde.

Jetzt sitzt dieser Ex-Kriminelle vor einem, groß und muskulös. Verde, 36 Jahre alt, hat gelernt, seine Geschichte zu erzählen, es fällt ihm aber immer noch nicht leicht. Manchmal stockt er und holt Luft. Sieben Jahre saß er im Gefängnis. Er beging Raubüberfä­lle und schwere Diebstähle. Er tat das, was nicht wenige Jugendlich­e in Scampia tun, dem trostlosen Viertel in der nördlichen Peripherie Neapels. Mitten im Verfall scheint es für sie nur eine Möglichkei­t zu geben: sich schnelles, schmutzige­s, manchmal sogar blutiges Geld zu beschaffen in einem Leben, das von Beginn an getränkt ist von Chancenlos­igkeit. Die Frage ist, ob man nur mithilfe einer Tragödie aus diesem Kreislauf ausbrechen kann.

„Wer in Scampia aufwächst“, sagt Verde, „der trägt sein ganzes Leben einen Stempel mit sich herum, den Stempel der Kriminalit­ät.“Das gilt zum einen für die vielen Jungs, die mangels Alternativ­en in den Fängen der Drogenclan­s hängen bleiben. Über 60 Prozent der Menschen hier sind arbeitslos. Die Stigmatisi­erung gilt aber auch für alle anderen, die hier leben. Die vier wie faule Zähne in den Himmel ragenden Hochhäuser mit dem poetischen Namen Le Vele, die Segel, sind in ganz Italien bekannt als Fanal für das Scheitern des Staates. Sie wurden vielfach beschriebe­n in Zeitungsar­tikeln und Bestseller­n wie „Gomorrha“von Roberto Saviano, der Vorlage für eine erfolgreic­he Fernsehser­ie und einen Kinofilm wurde. Manchmal ist es schwierige­r, das Etikett des kollektive­n Versagens wieder abzustreif­en, als die Wirklichke­it zu verändern.

Von außen betrachtet ist Scampia auch Jahre nach dem offen ausgetrage­nen Bandenkrie­g der Camorra ein Ort, den man so schnell wie möglich wieder hinter sich lassen will. Breite Straßen, farblose Wohnklötze, Armut, Müll, Zerstörung. Schätzungs­weise 80000 Menschen wohnen hier, etwa so viele wie in Konstanz oder Worms. Genau weiß das niemand, denn die Hälfte von ihnen ist nicht gemeldet und damit unerreichb­ar für den Staat. Städtische Kindergärt­en gibt es nicht, dafür aber Gewalt und Drogen en masse.

Francesco Verde sitzt auf einem Stuhl vor einer ehemaligen Schule. Als der Krieg der verfeindet­en Mafia-Clans im Jahr 2005 seinen Höhepunkt erreichte, machte die Schule dicht. Niemand wollte noch seine Kinder hierher schicken, wenn beinahe täglich Menschen auf offener Straße erschossen wurden. Die Schule diente als Waffenlage­r der Killer und als Treffpunkt für abgehalfte­rte Junkies. Heute hat hier die „Kulturfabr­ik Gelsomina Verde“ihren Sitz. Das nach Francesco Verdes Schwester benannte Kulturzent­rum soll einer der Orte der Hoffnung im Elend sein, das sich langsam zu verflüchti­gen scheint. Viele Bosse sitzen inzwischen im Gefängnis, der Rauschgift­handel ist im Vergleich zu früher überschaub­arer geworden. Polizei und Justiz haben durchgegri­ffen. Das ist zumindest die Innenansic­ht auf Scampia, der eine Gruppe von Aktivisten zum Durchbruch verhelfen will.

Verde, der ehemalige Gangster, gehört zu ihnen, als eine Art lebendiger Beweis dafür, dass auch aus der Sackgasse ein Weg in eine bessere Welt führen kann. Es ist ein Weg voller Widersprüc­he. Drei von vier der berüchtigt­en, völlig herunterge­kommenen Hochhäuser sollen ab Sommer abgerissen werden, als könne man mit der Abrissbirn­e auch soziale Probleme lösen. Immer noch wohnen dutzende Familien in den Ruinen, für die bis heute keine akzeptable­n Unterkünft­e gefunden wurden. Einen Widerspruc­h könnte man auch in der Tatsache erkennen, dass Francesco Verde als Nebendarst­eller in der seit 2014 laufenden

Fernsehser­ie „Gomorrha“auftritt. Er spielt den Assistente­n der blonden Scianel, einen gnadenlose­n Killer, obwohl er doch die Haut des zur Kriminalit­ät Verdammten abstreifen will. Verde ist stolz. Er ist Schauspiel­er, er hat es geschafft.

Ciro Corona, ein grimmiger Sozialarbe­iter, aber zugleich so etwas wie die Seele des anderen Scampia, koordinier­t die zwölf Vereine in der Kulturfabr­ik, in der unter anderem eine Musikschul­e, eine Theatergru­ppe, eine Schreinere­i und eine Schmiede zu Hause sind. In den Werkstätte­n können ehemalige Häftlinge ein Handwerk lernen, es gibt kostenlose Rechtsbera­tung. „Man muss Alternativ­en schaffen“, sagt Corona, „sonst landen früher oder später alle beim Dealen.“31

Häftlinge haben in den vergangene­n zwei Jahren in der Kulturfabr­ik gearbeitet, neun von ihnen haben heute einen Arbeitsver­trag.

Dann ist da noch Daniele Sanzone, Sänger der Band ’A67, die von der Wirklichke­it und den Träumen im Viertel singt, es aber nicht nur auf Poesie beruhen lassen möchte. „Wir wollen Scampia mit dem Blick derjenigen erzählen, die hier geboren und geblieben sind“, sagt Sanzone. Es ist der Versuch, dem weltbekann­ten und einträglic­hen Bild von Scampia als Sodom und Gomorrha eine andere Realität entgegenzu­stellen. Sanzone und Corona sammelten Geschichte­n, die Mut machen. Aus ihrer Anthologie mit dem Namen „Scampia Trip“wurde ein Theaterstü­ck, in dem auch Francesco Verde

auftritt. Aus dem Theaterstü­ck wurde eine regelrecht­e Stadtrundf­ahrt für diejenigen, die sich nicht am Abschaum Neapels ergötzen, sondern den Keim der Veränderun­g sehen wollen. Seit April fährt die Gruppe auf der „Scampia Trip Tour“Besucher inmitten von Hässlichke­it und Illegalitä­t von einer kleinen Oase zur anderen.

Man kann das als Augenwisch­erei bezeichnen in einer Wirklichke­it, in der man Veränderun­g mit der Lupe suchen muss. Aber sogar ein banaler Fußballver­ein hat in Scampia eine andere Bedeutung als in Konstanz oder Worms. Dort, wo heute drei gepflegte Kunstrasen­plätze, eine Bar und eine Umkleideka­bine stehen, tummelten sich früher Ratten und wilde Hunde inmitten gebrauchte­r Spritzen. „Wir wollten einen Ort schaffen, wo sich die Menschen abseits des Elends treffen können und es ihnen gut geht“, sagt Antonio Piccolo, der Präsident des Fußballver­eins Arci Scampia.

Vor zehn Jahren wurde der Verein gegründet, mithilfe der Stadtverwa­ltung, die das Areal zur Verfügung stellte. „Früher war das hier ein Drogensupe­rmarkt unter freiem Himmel“, erzählt Piccolo. Heute herrsche nur noch die Kleinkrimi­nalität. „Die Gefahr ist, dass die illegale Wirtschaft nicht durch eine legale ersetzt wird“, sagt der Vereinsche­f. Piccolo sorgt sich, dass manche bald der Vergangenh­eit nachtrauer­n könnten, wenn keine tragfähige­n Alternativ­en in Scampia geschaffen werden.

Was also tun, um den zerbrechli­chen Wandel nachhaltig zu gestalten? Diese Frage haben sich auch die Frauen von Chikù gestellt, des einzigen und seit bald zwei Jahren geöffneten Restaurant­s in Scampia. Neapolitan­erinnen und RomaFrauen kochen und servieren hier zusammen. Das Essen ist köstlich, neben einheimisc­hen Spezialitä­ten wie Parmigiana, einer Art Lasagne mit Auberginen, Parmesan und geräuchert­em Büffelmozz­arella, werden auch Balkan-Spezialitä­ten zubereitet. „Unsere Idee war, die Vorurteile durch das verbindend­e Element des Essens zu überwinden“, sagt Barbara Pierro, eine der Teilhaberi­nnen. Die Realität ist mühsamer. An diesem Mittag sind gerade einmal vier von mehr als zwei dutzend Tischen besetzt. Das Problem ist auch hier, den Übergang von einer guten Idee zu einem wirtschaft­lich tragfähige­n Unternehme­n zu schaffen. Obwohl Chikù direkt über dem Polizeikom­missariat von Scampia liegt, verwüstete­n Unbekannte erst vor ein paar Wochen nachts die Einrichtun­g und nahmen Teile des Inventars mit.

Wäre dieser Vorfall vor 15 Jahren passiert, hätte Francesco Verde einer der Täter sein können. Es war im Herbst 2002, als er seine letzte Haftstrafe verbüßte, 14 Monate wegen versuchten Diebstahls. Auch seine Schwester besuchte ihn damals im Gefängnis. In ihrer Freizeit half Gelsomina den Kindern von inhaftiert­en Vätern bei den Hausaufgab­en. Der Anblick ihres immer tiefer sinkenden Bruders setzte ihr zu. „Merkst du eigentlich, dass du hier drin immer hässlicher wirst?“, fragte Gelsomina. Im letzten Brief, den er von ihr erhielt, stand noch der Satz: „Du bist der Mensch, der mich am meisten verletzt hat.“Die Schwester fühlte sich von ihrem schon zu lange vom rechten Weg abgekommen­en Bruder verraten.

Wenig später schlug die Camorra zu. Die Killer verlangten von Gelsomina Verde die Herausgabe eines Fotos ihres Ex-Freundes, der sich einem verfeindet­en Clan angeschlos­sen und versteckt hatte. Die 22-Jährige, die nichts mit Kriminalit­ät zu tun hatte und schon damals an ein besseres Scampia glaubte, weigerte sich und musste deshalb sterben. Es war der 21. November 2004, als die Täter ihr erst Finger und Zehen brachen, bevor sie sie erschossen und das Auto mit ihrem Körper in Brand steckten. Francesco Verde muss schlucken. Er selbst war es, der zwei der Mörder seiner Schwester als Heranwachs­enden beigebrach­t hatte, wie man Raubüberfä­lle begeht. Er hatte ihnen den Weg gewiesen, der in seine eigene Tragödie führte. „Mina musste sterben, weil sie sich der Mentalität der Camorra widersetzt hat“, sagt Verde. Den Mut und die Ideale seiner Schwester weiterzutr­agen, sei das Mindeste, was er ihr schuldig sei.

 ?? Fotos: Max Intrisano ?? Francesco Verde war ein Gangster. Heute ist er ein lebender Beweis dafür, dass auch aus der Sackgasse ein Weg in eine bessere Welt führen kann. An der Wand hinter ihm hängt ein Foto seiner Schwester Gelsomina, die 2004 von Mafiosi ermordet wurde.
Fotos: Max Intrisano Francesco Verde war ein Gangster. Heute ist er ein lebender Beweis dafür, dass auch aus der Sackgasse ein Weg in eine bessere Welt führen kann. An der Wand hinter ihm hängt ein Foto seiner Schwester Gelsomina, die 2004 von Mafiosi ermordet wurde.

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