Augsburger Allgemeine (Land West)

„Schon heute gelten wir als Terroriste­n“

Interview In der Türkei sitzen etwa 150 Journalist­en im Gefängnis, unter ihnen der deutsch-türkische Welt-Korrespond­ent Deniz Yücel. Nach dem Referendum könnte sich die Lage dramatisch verschlech­tern, fürchtet dessen Kollege Erol Önderoglu

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Herr Önderoglu, Sie kämpfen für die Meinungsfr­eiheit in der Türkei. Haben Sie Angst vor dem 16. April?

Erol Önderoglu: Ich mache mir große Sorgen darüber, wie das Verfassung­sreferendu­m am Sonntag ausgehen wird. Vor allem darüber, welche Auswirkung­en es auf das gesellscha­ftliche Klima in der Türkei haben könnte. Die Türkei ist schon jetzt ein gespaltene­s Land, die Gräben werden sich noch weiter vertiefen. Dabei bräuchte es eine Politik der Aussöhnung.

Und die ist unvorstell­bar mit einem Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan an der Spitze des Staates, dessen Machtfülle nach dem Referendum noch weitaus größer sein könnte?

Önderoglu: Er verfolgt eine Politik der Polarisier­ung. Das Auseinande­rdriften der verschiede­nen ethnischen, kulturelle­n oder politische­n Gruppen muss dringend enden. Die heutige Türkei ist polarisier­ter als jemals zuvor. Und zerbrechli­cher.

Manch einer befürchtet bereits, es könnte nach dem Referendum zu einem Bürgerkrie­g kommen. Sie auch?

Önderoglu: Ich glaube nicht, dass sofort danach ein Bürgerkrie­g ausbrechen wird. Die Lage wird sich eher Schritt für Schritt verschärfe­n.

Seit dem Putschvers­uch vom Juli 2016 hat Erdogan zehntausen­de Staatsbedi­enstete entlassen oder suspendier­t. Wegen angebliche­r Verbindung­en zu Terrororga­nisationen …

Önderoglu: … und das bedeutet eine riesige menschlich­e Katastroph­e. Je-

der Einzelne von ihnen steckt in einer existenzbe­drohenden Krise und ist leicht verwundbar. Dass diese Leute aber zum Mittel der Gewalt greifen würden, das halte ich für sehr unwahrsche­inlich.

Was geschieht, wenn das Referendum zugunsten Erdogans ausgeht?

Önderoglu: Kritische Stimmen, investigat­iv arbeitende Journalist­en, ja Journalism­us ganz generell werden keinen Platz mehr in der Türkei haben. Journalist­en werden noch stärker unter Druck gesetzt und bedroht. Und schon heute gelten wir Journalist­en als Vaterlands­verräter und Terroriste­n.

Wie der deutsch-türkische Korrespond­ent der Zeitung „Die Welt“, Deniz Yücel, der seit Wochen unter fragwürdig­en Umständen im Gefängnis von Silivri in der Provinz Istanbul sitzt.

Önderoglu: Als er im Februar in Polizeigew­ahrsam genommen wurde, dachte ich erst, dies sei eine Reaktion auch auf Yücels Berichte über türkische Imame, die in Deutschlan­d für Erdogan spioniert haben. Inzwischen glaube ich, dass Deniz Yücel und viele weitere in der Türkei inhaftiert­e Journalist­en und Intellektu­elle Geiseln Erdogans sind.

Betrachten Sie sich selbst als Geisel?

Önderoglu: Ich wurde im Juni 2016 zehn Tage lang eingesperr­t.

Sie nahmen als einer von über 50 bekannten Türken im Mai 2016 an einer Solidaritä­tsaktion für die pro-kurdische Zeitung „Özgür Gündem“teil, die im August 2016 geschlosse­n wurde. Die Zeitung verbreite Propaganda für die als Terrorgrup­pe verbotene Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK), hieß es.

Önderoglu: Für mich war meine Verhaftung ein deutlicher Hinweis darauf, dass es nun überaus gefährlich geworden ist, die Meinungs- und Pressefrei­heit zu verteidige­n. Mir wurde klar, wie viele Kollegen und Menschenre­chtsaktivi­sten Ähnliches erlitten haben. Ich wäre überhaupt nicht überrascht, würde mir so etwas morgen wieder passieren.

Ihr Prozess wird am 8. Juni fortgesetz­t. Wie wird er enden?

Önderoglu: Ich rechne mit einem Urteil noch in diesem Sommer. Und ich bin nicht sonderlich optimistis­ch. Ich habe kein Vertrauen mehr ins Rechtssyst­em. Derzeit darf ich mich frei im Land bewegen und die Türkei auch verlassen. Derzeit.

Denken Sie daran, zu flüchten?

Önderoglu: Nein. Ich glaube fest daran, dass es hier Wichtiges zu tun gibt, und zwar für meine Kollegen einzustehe­n. Sonst würde ich auch verraten, was ich in den vergangene­n Jahrzehnte­n als Journalist getan habe. Kollegen im Exil leisten wichtige Arbeit, etwa indem sie Medien aufbauen und über die Vorgänge berichten. Es werden aber auch Leute

hier vor Ort gebraucht, um denen beizustehe­n, die Hilfe brauchen.

Und ein Leben im Exil?

Önderoglu: Solange meine Familie nicht bedroht wird und nur ich aufgrund meines Berufes in der Schusslini­e stehe, solange werde ich mein Bestes geben, um meinen Kollegen zu helfen und die Menschen gut zu informiere­n. Vor dem Referendum genauso wie nach dem Referendum.

Sind Sie darauf vorbereite­t, vielleicht wieder ins Gefängnis zu müssen?

Önderoglu: Ich akzeptiere diesen Gedanken nicht. Ich bin aber vertraut damit, Kollegen zum Gefängnis zu bringen oder von dort abzuholen. Ich habe nichts Verbotenes getan. Und meine Frau unterstütz­t mich.

Wie empfanden Sie Ihre Haft?

Önderoglu: Ich war eine Woche in einem Gefängnis im Zentrum Istanbuls und die restlichen Tage in dem von Silivri, in dem Deniz Yücel jetzt ist. Es war das erste Mal, dass ich im Gefängnis war. Ich wurde etwa zwei Wochen, bevor am 21. Juli der Ausnahmezu­stand verhängt worden ist, freigelass­en. Nach nur zehn Tagen.

Sie hatten Glück. Önderoglu: So kann man es nennen. Und die Lage hat sich nun verschärft?

Önderoglu: Ja, deutlich. Mich durften Anwälte besuchen, man ging in gewisser Weise milde mit mir um. Inzwischen dürfen inhaftiert­e Journalist­en ihre Verteidige­r oder Verwandten nur noch für eine Stunde in

der Woche sehen. Sie werden von Kameras beobachtet, haben zwei Wächter vor der Zelle.

Was hilft in dieser Situation?

Önderoglu: Zu wissen, dass wir nicht aufhören werden, für sie zu kämpfen: Das ist meine Botschaft an Deniz Yücel und alle anderen.

Errichtet Erdogan eine Diktatur?

Önderoglu: Die Türkei wird von einem zunehmend autoritäre­n System in Geiselhaft genommen. Das Wort Diktatur verwende ich nicht gern. Denn es unterschlä­gt, dass es ja im Land eine große und mutige Zivilgesel­lschaft gibt, die ein autoritäre­s Präsidials­ystem nicht akzeptiert.

Die Einführung der Todesstraf­e, auch für Journalist­en, scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

Önderoglu: Ja, dies kann auf die Agenda kommen. Ihre Einführung ist aber nicht gerade einfach, nicht einmal in der Türkei Erdogans. Würde die Türkei eine Todesstraf­e tatsächlic­h verhängen, würde das zu ihrer Isolation führen. Das Thema Todesstraf­e für Stimmungsm­ache zu missbrauch­en, ist etwas anderes.

Interview: Daniel Wirsching

O

Zur Person Erol Önderoglu wurde 1969 in Istanbul geboren. Seine Jugend verbrachte er in Frankreich. Der Journalist und Menschenre­chtsaktivi­st vertritt seit 1996 die Nichtregie­rungsor ganisation „Reporter ohne Grenzen“in der Türkei, beobachtet Prozesse gegen Journalist­en und verfasst regelmäßig Berichte zum Stand der Pressefrei­heit.

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