Augsburger Allgemeine (Land West)
Der „Fingerabdruck“des Schraubendrehers
Prozess Ein rätselhafter Fund unter dem Beifahrersitz eines Polizeiautos überführt am Ende einen Einbrecher
Ein kleiner Kriminalfall entpuppt sich als kriminalistisches Lehrstück. Die Hauptrolle spielt ein etwa 25 Zentimeter langer Schraubenzieher (korrekt: Schraubendreher) mit hellem Holzgriff. Ein Polizist der Polizeiinspektion Mitte fand das herrenlose Werkzeug Anfang Juni 2016 zufällig unter dem Beifahrersitz des Funkwagens „Lech 11/15“. In der Nacht zuvor war in diesem Polizeifahrzeug ein Passant zur Wache gebracht worden, der Minuten nach einem versuchten Einbruch in die Radlstation am Hauptbahnhof kontrolliert worden war. Doch der 48-Jährige, nun im Prozess vor Amtsrichterin Susanne Scheiwiller angeklagt, beteuert: „Das ist nicht mein Schraubenzieher. Ich war’s nicht. Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Dem Gericht stellen sich in diesem Prozess zwei Fragen: Ist der Schraubenzieher überhaupt das Tatwerkzeug? Und: War es der Angeklagte, der es im Streifenwagen unbemerkt entsorgt hat? Die Vorgeschichte: In der Nacht zum 3. Juni sieht ein Bahnmitarbeiter, wie eine dunkle Gestalt ein Fenster der Radstation aufhebelt. Er ruft die Polizei, der Unbekannte flüchtet. Am Fenster sind deutliche Aufbruchsspuren zu sehen. Eine Streife der Inspektion Mitte entdeckt wenig später, gegen 4 Uhr, einen Mann in der Hermanstraße, auf den die Beschreibung des Zeugen ungefähr passt. Ein Polizist entdeckt in seinem Rucksack ein Taschenmesser, Handschuhe und eine Sturmhaube. Er tastet den 48-Jährigen grob ab, findet aber kein Einbruchswerkzeug. Der Passant wird freigelassen. Kurz darauf kommt über Funk die Mitteilung, man möge den Verdächtigen nun doch festnehmen.
Dies besorgt eine andere Streife, die sich in der Nähe befindet. Auf der Wache werden die Personalien aufgenommen, dann darf der Mann erneut gehen. Am folgenden Tag entdeckt ein Beamter unter dem Beifahrersitz des Funkwagens „Lech 11/15“den Schraubenzieher. Ein Gutachten des Landeskriminalamtes sagt später: Genau dieser Schraubendreher wurde bei dem versuchten Einbruch verwendet.
Doch wie ist die Lücke in der Beweiskette zu schließen? Der Polizist, der den Angeklagten abgetastet hatte, glaubt im Zeugenstand: „Wenn er den Schraubenzieher geschickt in der Kleidung versteckt hat, könnte ich ihn übersehen haben.“Nach der eigentlichen Festnahme durch eine andere Streife, so seine Vermutung, könnte er den Schraubendreher im Polizeiwagen unbemerkt unter den Sitz geschoben haben. Der Spurenexperte Thomas Stiller, 33, des Landeskriminalamtes München, sorgt mit einem kleinen Fachvortrag für Erstaunen. Auch der Allerweltsartikel Schraubendreher hat quasi einen individuellen „Fingerabdruck“. Wenn die kleine Metallschaufel an der Spitze bei der Produktion geschliffen wird, so der Sachverständige, hinterlässt der Schmirgel bei jedem Schleifvorgang ein anderes „Schliffbild“mit feinen Rillen und Dellen, die man nur unter dem Mikroskop erkennen kann. Dieses Spurenbild vergleicht man dann mit der Aufbruchsspur am Tatort, die mit Silikon ausgeformt wurde. Zu 100 Prozent, so versichert der Experte, seien in dem konkreten Fall zwei Spuren am Fenster von dem im Polizeiauto gefundenen Schraubendreher verursacht worden. Er war also das Tatwerkzeug.
Dass der 48-jährige Angeklagte (Verteidiger: Robert Brütting) es war, der den Schraubenzieher im Funkauto entsorgt hat, steht für das Gericht aus einem ungewöhnlichen Grund fest: Im Funkwagen Lech 11/15 wurde in dieser Nacht nämlich nur ein einziger Verdächtiger transportiert. Denn es handelt sich um den ältesten Funkwagen der Inspektion, der nur noch in Ausnahmefällen eingesetzt wird. Deshalb folgt Richterin Scheiwiller dem Antrag von Staatsanwältin Birgit Milzarek auf Verurteilung. Der Mann muss – auch wegen seiner Vorstrafen – für ein Jahr in den Knast, wenn der Schuldspruch rechtskräftig wird.