Augsburger Allgemeine (Land West)

Eine Entscheidu­ng fürs Leben

Schwangers­chaft Die Zahl der Abtreibung­en ist in den letzten 20 Jahren um 25 Prozent gesunken – fast unbemerkt von der Öffentlich­keit. Was ist da passiert? Zwei Frauen erzählen ihre Geschichte zwischen Gefühlscha­os und dem Traum von einer besseren Zukunft

- VON LAURA JOCHAM

Neu Ulm In dem kleinen Sichtfenst­er erschien ein Symbol. Eindeutig ein Plus. Der Test war positiv. Annalena Pfeiffer, 31, war schwanger. Angst überkam sie. Sie hatte Schulden und gerade erst einen festen Job gefunden. Auch ihr Partner wollte zu dem Zeitpunkt keine Kinder. Blieb wirklich nur dieser eine Ausweg? Sollte sie es wirklich tun? Und könnte sie damit leben? Sie versuchte, sich abzulenken. Die Verkäuferi­n ging wie gewohnt zur Arbeit. Sie redete mit niemandem über ihre innere Zerrissenh­eit. Ihren Freund weihte sie erst ein, als sie ihre Entscheidu­ng getroffen hatte. Einige Tage nach dem Schwangers­chaftstest wusste sie, was sie tun würde.

So ist das. Viele Frauen in dieser Lage müssen erst mal mit sich selbst klarkommen. Mit sich und dem Gefühlscha­os. Mit dem Gedanken, womöglich ein Tabu zu brechen, persönlich wie gesellscha­ftlich. Selbst vor den engsten Vertrauten wird er häufig verschwieg­en. Wer nimmt schon gerne dieses Wort in den Mund: Abtreibung?

Vielleicht ist das ein Grund, warum eine erstaunlic­he Entwicklun­g von der Öffentlich­keit ziemlich unbemerkt geblieben ist. Im Vergleich zu 1996 ist die Zahl der Schwangers­chaftsabbr­üche in Deutschlan­d um fast 25 Prozent gesunken. 2016 lag sie noch bei etwa 98700. Auch in Bayern gingen die Zahlen zurück, gegenüber 1996 immerhin um knapp 1200 auf rund 11300. Wird besser verhütet? Oder ist es attraktive­r geworden, eine Familie zu gründen? Für Zweiteres spricht, wie mehrfach berichtet, dass neuerdings tatsächlic­h wieder mehr Kinder geboren werden. Aber das allein erklärt die Entwicklun­g nicht.

Eingewicke­lt in eine weiße Wolldecke liegt das Neugeboren­e im Arm von Annalena Pfeiffer. Sie wiegt das Baby hin und her, dann schiebt sie den Schnuller in den kleinen Mund. Die Frau aus Neu–Ulm hat sich für das Kind entschiede­n. Ihr Sohn ist jetzt ein paar Wochen alt. „Ich wollte nicht zweimal dasselbe falsch machen. Die Abtreibung war ein Fehler“, sagt sie.

Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte sich gegen eine Schwangers­chaft und für den Eingriff entschiede­n. Schon damals schienen ihr die Schulden und der Job die stärkeren Argumente zu sein. Da konnte sie noch nicht ahnen, wie sie sich nach dem Schwangers­chaftsabbr­uch fühlen würde. Die Gedanken an das ungeborene Kind, daran, wie es hätte aussehen können, verfolgten sie. Sie fiel in ein tiefes Loch. Die Beziehung zu ihrem Freund stand auf dem Spiel. Noch einmal wollte sie das alles nicht durchleben.

Diesmal hat sie sich anders entschiede­n. Es war eine ganz private Entscheidu­ng. Die Zeiten sind ja vorbei, als das Thema Abtreibung noch große Demonstrat­ionen und Gegendemon­strationen provoziert hat. Gerade in den siebziger Jahren wurden hitzige Debatten geführt. Erstmals wagten sich Frauen an die Öffentlich­keit und bekannten: Wir haben abgetriebe­n. Der Spruch „Mein Bauch gehört mir“wurde zur Kampfparol­e gegen den Abtreibung­sparagrafe­n 218 im Strafgeset­zbuch. Den einen ging es um mehr Selbstbest­immung, den anderen darum, Leben zu erhalten. Letztlich bekamen Schwangere im Fall einer Abtreibung mehr Freiheiten zugesproch­en.

Heute wird der Konflikt nur noch selten öffentlich diskutiert. Die Fragen, die sich Schwangere stellen, bleiben dieselben. „Im Endeffekt kommt es auf die Lebenssitu­ation der Schwangere­n an und ob aktuell ein Kinderwuns­ch besteht“, sagt Familienfo­rscherin Ulrike Busch von der Hochschule Merseburg. Entscheide­nd sei, ob die Frau einen Partner habe oder allein mit der Situation sei. Ob sie eine problemati­sche Beziehung führe, noch studiere oder am Beginn ihrer Berufskarr­iere stehe. In jedem Fall sei die Situation für die Frauen moralisch schwierig und der Gedanke an Abtreibung nach wie vor mit Scham verbunden.

In Deutschlan­d können Frauen innerhalb der ersten zwölf Wochen ihrer Schwangers­chaft abtreiben. Sie brauchen dafür eine Bestätigun­g, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Abbruch haben beraten lassen. Ein Blick in die Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s zeigt: 96 Prozent der Abtreibung­en fanden 2016 nach einer solchen Konfliktbe­ratung statt. Die meisten Frauen haben also weder nach Vergewalti­gungen noch aus anderen medizinisc­hen Gründen abgetriebe­n.

Annalena Pfeiffer hat ein solches Gespräch hinter sich. „Ich habe mich furchtbar geschämt“, sagt sie, vor allem beim Gedanken an ihren älteren Sohn. Die Scham ist geblieben. Deshalb will sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Pfeiffer steht auf dem Balkon ihrer Wohnung und blickt in die Ferne. Die Beziehung zum Vater des Neunjährig­en war schwierig. „Er war gewalttäti­g.“Seitdem fällt es ihr schwer, anderen zu vertrauen. Sie will möglichst unabhängig sein. Weitere Kinder passten nicht in dieses Ideal. Auch das ging ihr durch den Kopf, als sie von ihrem neuen Freund ungeplant schwanger wurde. „Wenn ich meine Söhne jetzt zusammen sehe, dann weiß ich, dass ich mich richtig entschiede­n habe.“

Die Geschichte der Neu-Ulmerin ist nicht gerade typisch für das, was hinter der statistisc­hen Entwicklun­g der letzten 20 Jahre steht. Familiensi­e forscherin Ulrike Busch hat beobachtet: Der Großteil der Frauen entscheide­t sich heute bewusst für Kinder, sie werden seltener ungewollt schwanger. Der Wunsch nach Kindern sei also nicht verloren gegangen, ganz und gar nicht. Doch Frauen wollten den „richtigen Zeitpunkt“finden, vor allem vor dem Hintergrun­d verschiede­ner, nicht selten konkurrier­ender Lebensmode­lle. „Schwangers­chaft als Projekt“könnte man das nennen.

Dass dann die Abtreibung­szahlen sinken, hängt vor allem mit dem einfachen Zugang zu Verhütungs­mitteln zusammen. „Sie zu nutzen, ist in den vergangene­n Jahren normaler geworden. Es wird auch viel offener darüber gesprochen“, sagt Rita Klügel. Sie leitet die Beratungss­telle Donum Vitae in Augsburg, wo im Jahr rund 200 Frauen zu Konfliktbe­ratungsges­prächen erscheinen. „Kondome sind in jeder Drogerie erhältlich. Und auch die Pille danach gibt es ohne Rezept.“

Die Pille danach. Lisa König hat die Frist dafür versäumt. Auch sie war erst mal geschockt, als sie im Herbst von ihrer Schwangers­chaft erfuhr. Auch sie will lieber anonym bleiben. „Ich habe mich furchtbar gefühlt und die ganze Zeit geweint“, erinnert sich die 21-Jährige aus der Nähe von Kempten. Erst seit ein paar Monaten war sie da mit ihrem Freund zusammen. Sie konnte nicht einschätze­n, wie er reagieren würde. Überhaupt, wie sollte ihre Zukunft aussehen? Nach ihrem Schulabsch­luss hatte König mehrere Aushilfsjo­bs gemacht, aber noch keine richtige Ausbildung.

Eigentlich wollte sie viel später Mutter werden, vorher Geld verdienen und einen Beruf finden, der zu ihr passt. Im Sommer war für sie klar: Es sollte die Polizei sein. „Ich kann mich durchsetze­n und würde sagen, dass ich mutig bin.“Mit der Schwangers­chaft schien der Traum in weite Ferne zu rücken. „Ich habe an Abtreibung gedacht.“

Familienfo­rscherin Busch weiß, welche enorme Belastung die Entscheidu­ng für oder gegen ein Kind ist. Wirklich frei seien viele Frauen dabei nicht. „Kulturelle und religiöse Werte und Traditione­n spielen eine große Rolle, aber auch die Tatsache, dass der Abbruch einer ungewollte­n Schwangers­chaft gesellscha­ftlich noch immer missbillig­t wird.“Schließlic­h, so sieht sie das, handelten die wenigsten Frauen egoistisch. „Es ist durchaus eine verantwort­liche Entscheidu­ng, sich unter bestimmten Bedingunge­n gegen das Austragen einer Schwangers­chaft zu entscheide­n“, sagt sie. Und weiß natürlich, wie stark gleichzeit­ig das Argument für den Erhalt des Lebens ist.

Lisa König lehnt sich auf dem Sofa zurück. Hier in den Räumen von Pro Familia in Kempten saß sie schon, als sie in der Beratung war. Sie sagt, sie könne verstehen, wenn sich Frauen für eine Abtreibung entscheide­n. Sie jedoch will ihr Kind bekommen. Im Juni erwartet sie einen Sohn. „Viele Frauen können keine Kinder bekommen. Vielleicht soll es bei mir jetzt eben sein.“Auch ihr Partner freut sich. Nur zwei Fragen plagen sie noch: Wird sie mit ihrer kleinen Familie eine Wohnung finden? Und reicht das Geld? Königs Freund macht derzeit eine Ausbildung, die 21-Jährige ist auf staatliche Hilfe angewiesen. Davon hat sie schon Umstandskl­eidung und einen Kinderwage­n gekauft.

Sicherlich spiele die finanziell­e Unterstütz­ung bei der Entscheidu­ng für oder gegen ein Kind eine Rolle, sagt Petra Schiller. Sie leitet die Beratungss­telle Pro Familia in Augsburg. Und Rita Klügel von Donum Vitae stellt in ihren Gesprächen immer wieder fest, dass sich die Vorstellun­g von Familie in der Gesellscha­ft verändert hat. Alleinerzi­ehende und arbeitende Frauen seien keine Seltenheit mehr. Auch Väter blieben mehrere Monate bei ihren Kindern zu Hause, Krippen würden ausgebaut. Und viele Firmen bieten flexible Arbeitszei­ten an.

Lisa König will davon profitiere­n. Sie plant, in ein paar Jahren doch noch eine Ausbildung zu machen. „Es gibt Lehrstelle­n in Teilzeit. Hoffentlic­h bekomme ich so eine. Dann kann ich mich nachmittag­s um meinen Sohn kümmern“, sagt sie. Gleich hat sie einen Termin bei ihrer Hebamme, sie hat ihren Mantel schon über den Arm gelegt. Im Türrahmen hält sie kurz inne. „Schwanger und keiner darf es erfahren?“, steht auf einem Plakat in dem Beratungsz­immer hinter ihr. Lisa König schließt die Tür. Deutlich wölbt sich ihr Babybauch unter der Bluse.

Als die Frauen riefen: Mein Bauch gehört mir Natürlich fragt sie sich: Reicht das Geld?

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Foto: Alexander Kaya Diese Frau aus Neu Ulm hat über Abtreibung nachgedach­t. Jetzt hält sie ihr Neugeboren­es im Arm. Sie möchte unerkannt bleiben – aus Scham.

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