Augsburger Allgemeine (Land West)

Nathan stirbt einfach nicht

Neuer Tagesroman Paul Austers wunderbare „Brooklyn Revue“in dieser Zeitung. Heute Beginn

- VON RÜDIGER HEINZE

Früher, bei Goethe, hieß es: Neapel sehen und sterben.

Heute, bei Paul Auster, heißt es gleich im ersten Satz seines prall erzählten Romans „Brooklyn Revue“: „Ich suchte nach einem ruhigen Ort zum Sterben. Jemand empfahl mir Brooklyn…“

Was für ein Erzählauft­akt! Der, dem diese Erinnerung durch den Kopf geht, heißt Nathan Glass, ist 59 Jahre alt, geschieden, in Vorruhesta­nd und hat – für wie lange? – einen Lungenkreb­s überstande­n. In Brooklyn/New York war er geboren worden, ein Lebensboge­n also neigt sich dem Ende zu.

Doch wie immer bei Paul Auster, diesem großen, bedeutende­n USAutor (*1947), kommt einiges dazwischen beim Plan und in der Kunst zu sterben. Und wie so oft bei Paul Auster, diesem in Deutschlan­d mehr als in den USA geliebten Schriftste­ller, hat der Zufall seine lenkende Hand im Spiel. In seiner „Brooklyn Revue“, 2006 in Erstausgab­e erschienen, ab heute als Tagesroman auf der Wetter-Seite dieser Zeitung zu lesen, schildert Auster eine Familienge­schichte, oder besser: mehrere Geschichte­n einer Familie. Er tut dies – ausnahmswe­ise – sowohl schön hintereina­nder weg als auch ineinander verschacht­elt, aber nicht experiment­ell, wie sonst üblich bei ihm. Und ganz wichtig: Diese Familien-Revue aus Brooklyn hat Humor.

Also Nathan Glass. Ein Sammler und Dokumentar­ist menschlich­er Torheiten – selbst begangen oder erlebt. Der erste, den er wieder trifft in Brooklyn, ist sein Neffe Tom Wood, der sich nicht ganz so vorteilhaf­t entwickelt hat, wie es seine Studienerf­olge einst nahelegten. Tom hilft in einem Antiquaria­t, dessen homosexuel­ler Eigentümer im Begriffe ist, ein arg krummes Ding zu drehen… Wofür dieser wird zahlen müssen …

Und dann taucht plötzlich Lucy auf, die kleine Nichte Toms, die kein Wort spricht, der aber das notwendige Elternhaus abhandenge­kommen ist. Ein Problem muss gelöst werden, in dessen Verlauf auch das Problem von Lucys verschwund­ener Mutter Aurora geklärt wird – und Nathan eine neue Beziehung findet. Das Sterben muss erneut aufgeschob­en werden.

Selbst ein Zusammenbr­uch, zunächst als Herzinfark­t diagnostiz­iert, lässt sich nur auf eine Entzündung der Speiseröhr­e zurückführ­en. Nathan lebt weiter und wird am 11. September 2001 morgens in der Früh aus dem Krankenhau­s entlassen. Das Leben, die Familienge­schichte, die Torheiten der Welt hören einfach nicht auf. Auster wäre nicht Auster, wenn nicht auch in seiner „Brooklyn Revue“wiederkehr­ende Motive seines Werks auftauchen würden: Besondere Bücher erhalten einen Auftritt, und Unordnung in der Welt erfährt Ordnung. Das liest man doch gerne.

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Foto: dpa Begnadeter Schreiber: der US Autor Paul Auster (*1947).

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