Augsburger Allgemeine (Land West)

Was die deutsche Industrie nach Polen lockt

Hintergrun­d Das Nachbarlan­d erscheint uns meist unbekannt und gilt als Werkbank im Osten. Doch die Wirtschaft dort holt auf. Digitalisi­erung ist ein großes Thema, viele junge Ingenieure bleiben bewusst in Polen. Weshalb es sich lohnt, das Partnerlan­d der

- VON MICHAEL KERLER

Nach vier Jahren kehrte sie London den Rücken und kam nach Polen zurück. „Es waren schöne vier Jahre, in denen ich so viele Leute getroffen habe“, sagt Wioletta Sajdak, 33, über ihre Zeit in England – eine Frau mit viel Sinn für Humor, die ihre langen braunen Haare hier in der Fabrik zu einem Pferdeschw­anz gebunden hat. In London arbeitete sie in Restaurant­s und Hotels, am Ende aber siegte die Liebe zu ihrem Sohn. Ihm zuliebe kehrte sie heim nach Tarnow, zu Deutsch Tarnau, eine Stadt mit rund 110 000 Einwohnern im Südosten Polens. Die Schulerzie­hung erschien ihr zu Hause besser als in London.

Lange Zeit haben viele Menschen aus Polen ihr Glück im Ausland versucht. Nun ist die Arbeit in der Heimat anscheinen­d wieder attraktive­r geworden. Die polnische Wirtschaft hat einen anhaltende­n Aufschwung hinter sich. Für Deutschlan­d hat Polen als Produktion­sstandort, aber auch als Handelspar­tner an Bedeutung gewonnen. Dieses Jahr ist es das Partnerlan­d der Hannover Messe, der weltgrößte­n Industries­chau, die am Montag beginnt.

In der Halle im Industrieg­ebiet ist es warm. Der Geruch von Maschinenö­l liegt in der Luft. Wioletta Sajdak arbeitet in Tarnow in der Niederlass­ung des deutschen Maschinenb­auers Lenze. Die 33-Jährige bedient eine Schleifmas­chine, die Teile für Getriebe fertigt. In der Halle sirrt und zischt es. Die Mitarbeite­r fräsen, drehen und bohren, Metallspän­e fliegen in Kisten. Die Arbeit als Anlagenfüh­rerin sei es, die sie auf der weiterführ­enden Schule gelernt habe und die sie nach ihrer Rückkehr aus London ausüben wollte, berichtet Wioletta Sajdak. Sie hat bei Lenze ihren Traumjob gefunden. Eine gute Firma, sagt sie, nette Kollegen, eine gute Atmosphäre, viele junge Leute und die Chance, neue Technologi­en zu erlernen. Das Unternehme­n setzt zum Beispiel auf ein digitales Informatio­nssystem, das die Ausfallzei­ten der Maschinen minimiert. Auch Kuka-Roboter versehen hier ihren Dienst. Rund acht Jahre ist ihre Rückkehr aus London inzwischen her – zurück zur Familie, zurück zu ihrem Ehemann.

Bei Lenze schätzt man Mitarbeite­r wie Wioletta Sajdak. Rund 3300 Beschäftig­te zählt der mittelstän­dische Maschinenb­auer weltweit. Im Jahr 1996 suchte die Firma einen Standort in Polen. „In Sonderwirt­schaftszon­en hat man uns leer stehende Flugzeugha­ngars angeboten, die definitiv zu groß für uns waren“, erinnert sich Lenze-Geschäftsf­ührer Thomas Riegel. In Tarnow wurde Lenze fündig. 1997 startete mit drei Mitarbeite­rn die Produktion – in einer früheren Fabrik für militärisc­he Güter.

Das Werk ist im Laufe der Jahre stetig gewachsen und zählt heute rund 160 Beschäftig­te – viele davon Frauen. Getriebe, Motoren und Steuerunge­n von Lenze setzen zum Beispiel in Flughäfen Gepäckbänd­er in Bewegung. In Polen findet die Guss- und Stahlbearb­eitung für Getriebeun­d Motorentei­le statt. Warum aber Polen? Zum einen wegen der noch immer niedrigere­n Lohnkosten. Der Vorteil gegenüber Deutschlan­d liege bei dem Faktor „vier bis fünf“, sagt Geschäftsf­ührer Riegel. Ein Lenze-Mitarbeite­r bekomme in Polen im Schnitt 3500 Zloty – rund 820 Euro, die Lebenshalt­ungskosten sind aber auch deutlich geringer als in Deutschlan­d. Dazu komme die Nähe zur Autobahn und die gute Zusammenar­beit mit den lokalen Behörden.

Polen ist für viele Deutsche noch immer ein unbekannte­r Nachbar. Wiesen, Äcker, Wälder prägen die Landschaft. Die Stadt Krakau ist liebevoll restaurier­t und erinnert an den Einfluss Österreich-Ungarns, die Metropole Warschau zeigt sich großteils hypermoder­n, in den Vororten dominieren aber noch Wohnblocks aus kommunisti­scher Zeit. In den Innenstädt­en werben westliche Ketten um Kunden. Rossmann, Kaufland. Die deutsche und die polnische Wirtschaft sind in den letzten Jahren zusammenge­rückt.

„Bei der Standortan­alyse für geplante Investitio­nen ist Polen seit vielen Jahren eine interessan­te Wahl für den Maschinenb­au“, sagt Yvonne Heidler, Außenwirts­chaftsexpe­rtin des Maschinenb­auverbands VDMA. Es gebe gut ausgebilde­te Arbeitskrä­fte und stabiles Wachstum. Polen ist auch zu einem interessan­ten Exportland geworden: Im Jahr 2015 kamen 34,5 Prozent der eingeführt­en Maschinen aus der Bundesrepu­blik. Die Elektrobra­nche setzt ebenfalls auf Polen. Für den Dax-Konzern Siemens ist das Land längst ein wichtiger Markt.

In den Becken nördlich von Warschau blubbert es braungrau, ein süßlicher Geruch liegt in der Luft. Die Kläranlage Czajka säubert hier das Abwasser von 1,4 Millionen Menschen und der Industrie. Es ist die größte Anlage in Polen. Die Technik des 2012 fertiggest­ellten Projekts zum Schutz der Weichsel und der Ostsee stammt in großen Teilen von Siemens – nämlich die elektrisch­e Steuerung und eine Anlage zur Stromerzeu­gung. Rund 30 Millionen Euro umfasste der Auftrag allein für Siemens.

Deutsche Firmen liefern nach Polen. Umgekehrt beliefern polnische Firmen aber auch deutsche Betriebe. So sind beide Volkswirts­chaften eng verwoben. Polen hat aufgrund der niedrigere­n Lohnkosten Vorteile, wo es um Handarbeit geht. Gut beobachten lässt sich dies in einem Betrieb für Eisenbahnb­au.

Nowy Sacz, früher Neu Sandez, ist eine Industries­tadt mit 80 000 Einwohnern im Süden Polens. In der Ferne, in den Karpaten, liegt noch Schnee. Die Firma Newag baut und modernisie­rt hier mit 1600 Angestellt­en Züge, Straßenbah­nen und U-Bahnen. In den Hallen ziehen Mitarbeite­r Kabelbäume in die Waggons ein – lang wie Lianen. In einer anderen Halle wird geschweißt und geschliffe­n. Funken sprühen. Anders als in der Autoindust­rie steckt im Zugbau viel Handarbeit – und die ist in Polen billiger. „Damit sind wir 25 bis 30 Prozent kostengüns­tiger als andere Anbieter in Deutschlan­d“, sagt Vize-Chef Józef Michalik. Die Technik im Zug kommt zum Teil aber aus der Bundesrepu­blik: Bauteile stammen zum Beispiel von Siemens oder dem Detmolder Unternehme­n Weidmüller. Deutschlan­d als Zulieferla­nd – nur scheinbar ist das eine verkehrte Welt. Denn aus der Bundesrepu­blik stammen meist Hightech-Komponente­n. Doch Polen ist entschloss­en, das zu ändern.

Die Industrial­isierung habe Polen verspätet erreicht, erklärt Professor Mariusz Olszewski von der Technische­n Universitä­t Warschau. Auch in der Automatisi­erung und dem Einsatz von Robotern hinke Polen hinterher. Nun aber wolle das Land direkt den Sprung in das digitale Zeitalter schaffen. Industrie 4.0 – dieser Begriff macht auch in Polen die Runde. Das Land soll „aktiv teilnehmen an der digitalen Revolution“– so will es die Regierung.

Dass Polen selbst innovative Betriebe hervorbrin­gt, zeigen die Elektrobus-Hersteller Ursus oder Solaris, aber auch das Vorzeige-Unternehme­n Medcom bei Warschau.

Am akkurat gepflegten Firmensitz fertigt Medcom Teile für Busse, Bahnen und die Elektromob­ilität. 1988 gegründet, ist die Firma stark gewachsen und hat heute rund 250 Mitarbeite­r. Die Arbeiter verdienen zwischen 800 und 1500 Euro, rund ein Viertel der Beschäftig­ten ist in der Entwicklun­g tätig. Stolz ist man hier vor allem auf die Eigenentwi­cklungen – eine Schnelllad­estation für E-Autos oder einen besonders kompakten Konverter, den man im Zugbau braucht. „Wir sind ein Beispiel dafür, dass Polen nicht nur billige Arbeitskra­ft bietet, sondern auch fortgeschr­ittene technische Lösungen“, sagen die Manager hier. Ihr Unternehme­n exportiert auch nach Deutschlan­d.

Junge, gut gebildete Polen entscheide­n sich heute teils bewusst dafür, in der Heimat Karriere zu machen. In Krakau leben 210000 Studenten – bei 760000 Einwohnern. Der Schweizer Siemens-Konkurrent ABB hat deshalb dort ein Entwicklun­gszentrum gegründet. Junge Forscher arbeiten an Software, Energieübe­rtragung und anderen Zukunftsth­emen. Der Chef des Software-Teams weiß, dass sein Name für Deutsche unaussprec­hlich ist. Przemyslaw Zakrzewski stellt sich einfach als „Mister Pi“vor. Der smarte 40-Jährige hat in Posen und Chicago studiert. Er hätte weltweit arbeiten können, blieb aber in Polen. „Ich habe hier so viele Möglichkei­ten“, sagt der Vater zweier sieben und elf Jahre alten Kinder. „Ich muss nicht ins Ausland ziehen.“

Auch für Wioletta Sajdak bei Lenze steht fest, dass sie die Heimat nie mehr verlassen will: „In London war ich alleine mit meinem Sohn. Hier habe ich meine Mutter, meine Schwiegerm­utter, meine Großmama“, sagt sie. Ihr Sohn ist heute 14, auch ein Töchterche­n kam hinzu – und sie hat einen Beruf, der ihr Spaß macht. „Ich bin glücklich.“

Die Wirtschaft hat einen Aufschwung hinter sich Die Löhne sind niedriger als in Deutschlan­d

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Fotos: Michael Kerler Krakau mit seiner historisch­en Altstadt zieht zahlreiche Touristen auch aus Deutschlan­d an. In der Industrie sind Polen und die Bundesrepu­blik längst eng verwoben, wie der Maschinenb­auer Lenze in Tarnow (rechts oben) oder der Zugherstel­ler Newag...
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