Augsburger Allgemeine (Land West)

Oft behalf sie sich mit einem BH unter Männerklei­dung

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nicht. „Das stimmt nicht. Es ist ja mein Körper. Ihm fehlten nur wichtige Attribute.“Weibliche Attribute. Doch was tun, wenn man als Bub merkt, dass man lieber ein Mädchen wäre? Mit wem kann man sprechen? Wer hilft? Finden heute viele im Internet Leidensgef­ährten und Hilfe, steht diese Möglichkei­t 1972 noch nicht zur Verfügung. Im Gegenteil. Erzkonserv­ativ ist die Gegend. Transsexua­lität ist kein Thema. Hilfe gibt es nirgends. Zumindest nicht für Sandra Wißgott.

Sie probiert einfach heimlich die Kleider von Mutter und Großmutter an. Fühlt sich wohl in ihnen. Hinzu kommt, dass ein angeborene­s Hüftproble­m sie vom Sportunter­richt befreit. Während die Jungs Fußball spielen, findet sie Anschluss bei Mädchengru­ppen. Sie freundet sich mit Mädchen an. Schließlic­h ist sie lange der Ansicht, dass sie ihr Bedürfnis nach mehr Weiblichke­it auch im Kontakt mit Frauen decken könne. Doch die Freude, sich weiblich zu kleiden, bleibt – und auch der Wunsch, eine Frau zu sein. „An der Universitä­t in Bayreuth trug ich oft einfach einen BH, das sieht ja niemand“, erzählt Sandra Wißgott. es niemand sieht, war das Wichtigste. Über viele Jahre. Auch als sie schon verheirate­t ist. Auch als sie ihrer Frau erzählt hatte, dass sie lieber eine Frau wäre. „Schon nach einem halben Jahr Ehe merkte ich, dass alles nicht reicht“, sagt sie. Zwar hat sie das große Glück, eine ausgesproc­hen verständni­svolle Partnerin und eine gute, vertrauens­volle Beziehung zu haben. Viele Ehen zerbrechen an so einem Geständnis. Doch Auseinande­rsetzungen, Ängste bleiben auch bei Sandra Wißgott und ihrer Frau nicht aus. Das geht gar nicht anders. Dennoch hält die Ehe. Bis heute. Seit 1991. In den Jahren 1993, 1995 und 1997 werden die drei Kinder geboren.

Ursprüngli­ch hatten sie vereinbart, dass Sandra Wißgott bis zur Geburt der Kinder ihre weibliche Seite zu Hause in den eigenen vier Wänden ausleben darf. Doch auch danach war das Bedürfnis einfach zu groß. Sie schleicht sich – in Absprache mit ihrer Frau, aber unbemerkt von den Kindern – aus dem Haus. An den Wochenende­n kann sie ihre wahre Identität ein bisschen leben. Vor allem in großen Städten. Doch immer in Angst, erkannt zu werden.

An ihrem Wohnort WolframsEs­chenbach mit seinen etwa 3000 Einwohnern kennt sie so gut wie jeder. Schließlic­h leitet sie als Herr Wißgott über lange Jahre die Grund- und Hauptschul­e am Ort. Sie ist bei der Wasserwach­t und beim Bayerische­n Roten Kreuz en- gagiert und als tiefgläubi­ger Katholik acht Jahre lang Pfarrgemei­nderatsvor­sitzender.

Das jahrelange Verstecksp­iel und der damit verbundene extreme Leidensdru­ck setzen ihr aber immer mehr zu. Eine Borreliose-Infektion und ein Herzinfark­t führen im Jahr 2000 zum Zusammenbr­uch. Sie kommt auf Reha. Es folgen Wochen, in denen sie ihr Leben Revue passieren lässt – „in denen ich mich gefragt habe, ob das überhaupt mein Leben ist“. Natürlich hat sie längst über das Internet Kontakte zu anderen Betroffene­n. Auch in eine Selbsthilf­egruppe geht sie.

Doch erst 2007 hält sie es nicht mehr aus: Sie entscheide­t sich, ihr Geschlecht medizinisc­h einer Frau angleichen zu lassen. Und sie outet sich. Zuerst vor den Kindern. Ein schwierige­s Unterfange­n. Noch gut kann sie sich daran erinnern, wie wenige Wochen nach dem Gespräch mit den dreien ihr ältester Sohn in der Küche sitzt, weint und sie bittet, keine Frau zu werden. Zu groß war seine Angst, dass sich dann seine Eltern trennen könnten. Auch das Gespräch mit den Eltern ist nicht einfach. „Sie fielen am Anfang aus allen Wolken“, erinnert sie sich. „Und sie machten sich Vorwürfe, etwas in meiner Erziehung falsch gemacht zu haben.“

Die Outing-Gespräche im Schulamt und in dem kleinen Städtchen seien leichter als angenommen abgelaufen. Die Reaktionen wären überDass raschend positiv gewesen. „Natürlich waren viele verunsiche­rt, wie sie damit umgehen sollten“, erzählt die 55-Jährige. „Doch viele, von denen ich es nicht gedacht habe, unterstütz­ten mich.“Der katholisch­e Pfarrer am Ort etwa. Das Schulamt. Die Eltern an der Schule. Als Herr Wißgott unterschre­ibt sie 2008 noch die Zeugnisse. „Wenige Tage später, am letzten Schultag, bin ich dann endlich als Frau in die Schule gegangen.“Der Elternbeir­at reagiert prompt und schenkt ihr zum Abschied eine Halskette. „Aus heutiger Sicht hätte es den Abschied gar nicht gebraucht.“Für drei Jahre ging sie dann nach Nürnberg. Heute leitet sie die Grund- und Mittelschu­le im neun Kilometer von

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