Augsburger Allgemeine (Land West)

Jedes Schicksal ist n Stück Geschichte

Wer vor 70 Jahren als Flüchtling odetrieben­er kam, das spielt heute keine Rolle mehr. Doch Erinnerung und Erzählunge­nen wichtig /Serie (20 und Schluss)

- VON JANA TALLEVI (TEXT) UND MARCUS MERK (FOTOS)

Landkreis Augsburg Es sind Einzelschi­cksale, und doch stehen sie beispielha­ft für ein großes historisch­es Ereignis von europäisch­em Ausmaß: In den vergangene­n Wochen haben wir an die 20 Geschichte­n von Flüchtling­en und Vertrieben­en in unserer Serie „Heimat(los)“erzählt. Noch viel mehr Frauen und Männer hatten sich bei uns gemeldet, die ebenfalls von dem erzählen wollten, was ihnen seit 1945 in ihrer Kindheit oder Jugend widerfahre­n war. Einigen war es wichtig, die Geschichte ihrer späteren Ehepartner zu berichten oder das, was sie von ihren Eltern und Großeltern gehört hatten. Diese Lebenslini­en erzählen von Menschen aus Schlesien und Ostpreußen, aus Mähren und Böhmen oder aus dem Sudetenlan­d. Sogar aus Ungarn und dem damaligen Jugoslawie­n kamen einige.

Doch wie kam es eigentlich, dass gerade diese Menschen nach Flucht oder Vertreibun­g im Landkreis Augsburg gelandet sind und hier eine neue Heimat gefunden haben? Immerhin lebten damals in ganz Schwaben etwa 286000 Vertrieben­e, in manchen Dörfern im Augsburger Land war jeder Dritte ein Flüchtling. Da habe, soweit man heute weiß, auch der Zufall mitgespiel­t, sagt Kreisheima­tpflegerin Claudia Ried. „Wohin damals die Vertrieben­en gekommen sind, ist durchaus ein Gegenstand der Forschung“, erläutert sie. Noch seien nicht alle Fragen geklärt. Fest steht, dass beispielsw­eise in Schwaben besonders viele Sudetendeu­tsche aufgenomme­n wurden, drei Viertel der Vertrieben­en in Schwaben kamen aus dieser Region. Diese wiederum holten dann Verwandte nach.

In anderen Teilen Deutschlan­ds, etwa im Ruhrgebiet, gab es noch viel stärker als in Augsburg das Problem mit den zerstörten Städten. „Deshalb kamen dort kaum Vertrieben­e an“, erläutert die Historiker­in Claudia Ried. Manchmal war es zudem einfach der Zeitpunkt, zu dem Familie vertrieben wurde, der über ihren Ankunftsor­t in Deutschlan­d bestimmte, so Claudia Ried. „In Augsburg kam zeitweise jeden zweiten Tag ein Zug mit jeweils 2000 Menschen an.“Mit seiner geografisc­hen Lage in der Nähe zur Tschechosl­owakei kamen die Züge damals zunächst dort an. Zudem waren die Amerikaner als Besatzungs­macht in Bayern dazu bereit, die Vertrieben­en aufzunehme­n. Die Leute wurden damals nur wenige Tage in Augsburg versorgt und dann weitergesc­hickt. Auffanghei­me waren oft in Schulen eingericht­et. Davon hat Maria Lindermeir aus Kühlenthal berichtet, die zunächst in der Elias-Holl-Schule in Augsburg untergebra­cht war. Bei Annelo

re Götz aus Ellgau war die erste Station die St.-Georg-Volksschul­e in Augsburg.

Doch die Unterbring­ung der Vertrieben­en in ländlichen Gebieten brachte auch Probleme mit sich. Nicht alle stammten nämlich vom Land, unter ihnen waren auch viele Industriea­rbeiter und Handwerker. Auch davon haben in der Serie unsere Leser erzählt. So hatte Margot

Nentwig aus Breslau geschriebe­n, dass ihr die Arbeit auf dem Land, sie war nach Ustersbach gekommen, zunächst fremd war. Erst nach und nach lernte sie die Tätigkeite­n, die von der Jahreszeit bestimmt wurden, kennen. Dann blieb sie jedoch eine ganze Weile dabei. Der Vater von Reinhard Pösel aus Langweid war gelernter Maurer, ihm gelang es, ein halb verfallene­s Haus für seine Familie wieder herzuricht­en. Der Vater von Ekkehard Machalke aus Bobingen war Maler. In Liegnitz/ Schlesien hatte er ein eigenes Geschäft gehabt. Über sein Handwerk gelang es ihm auch, seine Familie in eine kleine Dorfgemein­schaft zu integriere­n. Andere Vertrieben­e zogen wieder weg aus den kleinen Dörfern des Augsburger oder Wertinger Landes – sie suchten und fanden Arbeit in großen Betrieben. So wie der Vater von Helmuth Plattek, der bei der Eisenbahn in Pforzheim eine Stelle fand.

Mit den Vertrieben­en kam auch eine neue Kultur nach Schwaben. So hatte der Ortsverein der SPD in Diedorf anlässlich seines 70-jährieine

gen Bestehens 2016 darauf hingewiese­n, rsten Zusamnnte menkünfte 19 Flüchter lingsversa­mm vertriebe-

nen Sozialdemo­kraten aus den Sudetengeb­ieten gewesen seien. Auch

Karl Heinz Thume aus Neusäß hat davon berichtet, dass sein Großvater von der SPD in Augsburg als Mitglied freundlich aufgenomme­n und ihm immer wieder kleine Verdienstm­öglichkeit­en verschafft wurden.

Dabei haben die Vertrieben­en die Gesellscha­ft im Augsburger Land auf noch ganz andere Weise verändert. Kreisheima­tpflegerin Claudia Ried weist darauf hin, dass die evangelisc­hen Kirchengem­einden in Gersthofen und Zusmarshau­sen auf die Neuankömml­inge zurückgehe­n. Andere Dinge sind hingegen ganz profan: Genoveva Spann aus Ostendorf erinnert sich, dass es bei den Schlesiern, die in ihr Heimatdorf kamen, oft Kartoffels­uppe oder Kartoffelp­uffer gab – dazu eine kulinarisc­he Revolution: Mohn für Mohnkuchen.

Erinnerung­en aus der Küche, das war oft das wenige, was den Sudetendeu­tschen und Egerländer­n, den Schlesiern und Donauschwa­ben aus der alten Heimat geblieben war. Auch wenn in den meisten Familien nicht viel über das Erlebte gesprochen wurde, so habe es doch bei vielen die Hoffnung auf eine Rückkehr gegeben, sagt Claudia Ried. Ernst

Kukula aus Meitingen war elf Jahre alt, als er den heimischen Hof in Mähren verlassen musste. Noch heute erinnert er sich, dass er damals sicher war, so viele Zugwaggone gebe es doch gar nicht, dass alle Deutschen aus der Tschechosl­owakei dort hineinpass­ten. Auch Monika

Holzer aus Langweid berichtet davon, wie sie als kleines Kind in den Gesprächen zwischen ihren Großeltern und ihrer Mutter das Gefühl der Verzweiflu­ng spürte und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr, denn „solch ein Unrecht könne doch nicht von Dauer sein“. Doch es dauerte bis zum Jahr 2016, bis Monika Holzer die alte Heimat kennenlern­en konnte. Anni von Doh

len hatte sich bereits 1990 in den Ort ihrer Kindheit, Niklasdorf im Sudetenlan­d, aufgemacht. Die Narben der Vertreibun­g spürt Roswitha

Westphal aus Stadtberge­n, heute 85 Jahre alt, noch heute: „Ich fühle mich noch immer ‚heimatlos‘. Im Herzen bin ich ein Ostpreuße.“

Dass sie die Vertrieben­en und Flüchtling­e möglichst bald wieder los sein würden, das war wohl auch der Glaube bei einigen Einheimisc­hen. Der Vater von Barbara Wolf und Gerlinde Zerle aus Ehingen war nach dem Zweiten Weltkrieg Bürgermeis­ter und in dem kleinen Ort dafür zuständig, die Flüchtling­e unterzubri­ngen. Manchmal konnten die Flüchtling­e so zugeteilt werden, dass sie auf einem Bauernhof helfen konnten. Manchmal hieß es aber auch: „Bürgermeis­ter, warum tust du uns das an und schickst uns die?“Die Kinder bekamen gleichzeit­ig am eigenen Leib zu spüren, dass sie nicht überall erwünscht waren. Luise Wölze

müller aus Vallried, deren Mutter einen vertrieben­en Schlesier geheiratet hatte, erinnert sich, dass sie in Stadtberge­n immer „Polackenzi­efern“genannt wurde, ein bayerische­s Dialekt-Schimpfwor­t für liederlich­e Frauenzimm­er aus Polen. Anderswo wurden die Vertrieben­en „Hura“- oder „Hurra“-Flüchtling­e, also verdammte Flüchtling­e, gerufen. Da gab es oft schwere Missverstä­ndnisse, hat Eva

Braunmille­r aus Gersthofen berichtet. Auch Helmtraut Lederer aus Gersthofen erinnert sich an das Gefühl, als Kind nicht überall erwünscht gewesen zu sein.

Und doch gab es auch freundlich­e Aufnahmen. „Schließlic­h haben die Vertrieben­en auch geholfen, den Wohlstand in der Bundesrepu­blik aufzubauen“, fasst Kreisheima­tpflegerin Claudia Ried zusammen. Josef

Pfister aus Neusäß war sechs Jahre alt, als er nach Schwaben kam. Da hatte er als Donauschwa­be schon zwei Jahre Flucht hinter sich. Heute sagt er: „Wenn Menschen aufeinande­r zugehen, jeder seinen Beitrag zur Verständig­ung leistet, dazu beiträgt, eine demokratis­che Gesellscha­ftsordnung zu unterstütz­en, wenn diese gefördert und beachtet wird, dann kann auch heutzutage Völkervers­tändigung und Integratio­n gelingen.“

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 ?? Foto: Familie Wölzemülle­r ?? Luise Wölzemülle­r aus Vallried bei ihrer Hochzeit. Sie fühlte sich als Kind als Vertrieben­e, obwohl sie hier geboren wurde.
Foto: Familie Wölzemülle­r Luise Wölzemülle­r aus Vallried bei ihrer Hochzeit. Sie fühlte sich als Kind als Vertrieben­e, obwohl sie hier geboren wurde.
 ?? Foto: Familie Lederer ?? Helmtraut Lederer mit Fotos aus ihrer Kindheit. Sie stammt aus Adelsdorf im Altvaterge­birge.
Foto: Familie Lederer Helmtraut Lederer mit Fotos aus ihrer Kindheit. Sie stammt aus Adelsdorf im Altvaterge­birge.
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Fotos: Familien Lindermeir, Braunmille­r Marianne Lindermeir, damals noch Wolf, in Ortlfingen. Im Hintergrun­d Barbara Kratzer, die Besitzerin des Hauses, in dem das junge Mädchen unterkam. Das Hochzeitsf­oto oben zeigt die Eltern von Eva Braunmille­r.
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