Augsburger Allgemeine (Land West)
Jedes Schicksal ist n Stück Geschichte
Wer vor 70 Jahren als Flüchtling odetriebener kam, das spielt heute keine Rolle mehr. Doch Erinnerung und Erzählungenen wichtig /Serie (20 und Schluss)
Landkreis Augsburg Es sind Einzelschicksale, und doch stehen sie beispielhaft für ein großes historisches Ereignis von europäischem Ausmaß: In den vergangenen Wochen haben wir an die 20 Geschichten von Flüchtlingen und Vertriebenen in unserer Serie „Heimat(los)“erzählt. Noch viel mehr Frauen und Männer hatten sich bei uns gemeldet, die ebenfalls von dem erzählen wollten, was ihnen seit 1945 in ihrer Kindheit oder Jugend widerfahren war. Einigen war es wichtig, die Geschichte ihrer späteren Ehepartner zu berichten oder das, was sie von ihren Eltern und Großeltern gehört hatten. Diese Lebenslinien erzählen von Menschen aus Schlesien und Ostpreußen, aus Mähren und Böhmen oder aus dem Sudetenland. Sogar aus Ungarn und dem damaligen Jugoslawien kamen einige.
Doch wie kam es eigentlich, dass gerade diese Menschen nach Flucht oder Vertreibung im Landkreis Augsburg gelandet sind und hier eine neue Heimat gefunden haben? Immerhin lebten damals in ganz Schwaben etwa 286000 Vertriebene, in manchen Dörfern im Augsburger Land war jeder Dritte ein Flüchtling. Da habe, soweit man heute weiß, auch der Zufall mitgespielt, sagt Kreisheimatpflegerin Claudia Ried. „Wohin damals die Vertriebenen gekommen sind, ist durchaus ein Gegenstand der Forschung“, erläutert sie. Noch seien nicht alle Fragen geklärt. Fest steht, dass beispielsweise in Schwaben besonders viele Sudetendeutsche aufgenommen wurden, drei Viertel der Vertriebenen in Schwaben kamen aus dieser Region. Diese wiederum holten dann Verwandte nach.
In anderen Teilen Deutschlands, etwa im Ruhrgebiet, gab es noch viel stärker als in Augsburg das Problem mit den zerstörten Städten. „Deshalb kamen dort kaum Vertriebene an“, erläutert die Historikerin Claudia Ried. Manchmal war es zudem einfach der Zeitpunkt, zu dem Familie vertrieben wurde, der über ihren Ankunftsort in Deutschland bestimmte, so Claudia Ried. „In Augsburg kam zeitweise jeden zweiten Tag ein Zug mit jeweils 2000 Menschen an.“Mit seiner geografischen Lage in der Nähe zur Tschechoslowakei kamen die Züge damals zunächst dort an. Zudem waren die Amerikaner als Besatzungsmacht in Bayern dazu bereit, die Vertriebenen aufzunehmen. Die Leute wurden damals nur wenige Tage in Augsburg versorgt und dann weitergeschickt. Auffangheime waren oft in Schulen eingerichtet. Davon hat Maria Lindermeir aus Kühlenthal berichtet, die zunächst in der Elias-Holl-Schule in Augsburg untergebracht war. Bei Annelo
re Götz aus Ellgau war die erste Station die St.-Georg-Volksschule in Augsburg.
Doch die Unterbringung der Vertriebenen in ländlichen Gebieten brachte auch Probleme mit sich. Nicht alle stammten nämlich vom Land, unter ihnen waren auch viele Industriearbeiter und Handwerker. Auch davon haben in der Serie unsere Leser erzählt. So hatte Margot
Nentwig aus Breslau geschrieben, dass ihr die Arbeit auf dem Land, sie war nach Ustersbach gekommen, zunächst fremd war. Erst nach und nach lernte sie die Tätigkeiten, die von der Jahreszeit bestimmt wurden, kennen. Dann blieb sie jedoch eine ganze Weile dabei. Der Vater von Reinhard Pösel aus Langweid war gelernter Maurer, ihm gelang es, ein halb verfallenes Haus für seine Familie wieder herzurichten. Der Vater von Ekkehard Machalke aus Bobingen war Maler. In Liegnitz/ Schlesien hatte er ein eigenes Geschäft gehabt. Über sein Handwerk gelang es ihm auch, seine Familie in eine kleine Dorfgemeinschaft zu integrieren. Andere Vertriebene zogen wieder weg aus den kleinen Dörfern des Augsburger oder Wertinger Landes – sie suchten und fanden Arbeit in großen Betrieben. So wie der Vater von Helmuth Plattek, der bei der Eisenbahn in Pforzheim eine Stelle fand.
Mit den Vertriebenen kam auch eine neue Kultur nach Schwaben. So hatte der Ortsverein der SPD in Diedorf anlässlich seines 70-jährieine
gen Bestehens 2016 darauf hingewiesen, rsten Zusamnnte menkünfte 19 Flüchter lingsversamm vertriebe-
nen Sozialdemokraten aus den Sudetengebieten gewesen seien. Auch
Karl Heinz Thume aus Neusäß hat davon berichtet, dass sein Großvater von der SPD in Augsburg als Mitglied freundlich aufgenommen und ihm immer wieder kleine Verdienstmöglichkeiten verschafft wurden.
Dabei haben die Vertriebenen die Gesellschaft im Augsburger Land auf noch ganz andere Weise verändert. Kreisheimatpflegerin Claudia Ried weist darauf hin, dass die evangelischen Kirchengemeinden in Gersthofen und Zusmarshausen auf die Neuankömmlinge zurückgehen. Andere Dinge sind hingegen ganz profan: Genoveva Spann aus Ostendorf erinnert sich, dass es bei den Schlesiern, die in ihr Heimatdorf kamen, oft Kartoffelsuppe oder Kartoffelpuffer gab – dazu eine kulinarische Revolution: Mohn für Mohnkuchen.
Erinnerungen aus der Küche, das war oft das wenige, was den Sudetendeutschen und Egerländern, den Schlesiern und Donauschwaben aus der alten Heimat geblieben war. Auch wenn in den meisten Familien nicht viel über das Erlebte gesprochen wurde, so habe es doch bei vielen die Hoffnung auf eine Rückkehr gegeben, sagt Claudia Ried. Ernst
Kukula aus Meitingen war elf Jahre alt, als er den heimischen Hof in Mähren verlassen musste. Noch heute erinnert er sich, dass er damals sicher war, so viele Zugwaggone gebe es doch gar nicht, dass alle Deutschen aus der Tschechoslowakei dort hineinpassten. Auch Monika
Holzer aus Langweid berichtet davon, wie sie als kleines Kind in den Gesprächen zwischen ihren Großeltern und ihrer Mutter das Gefühl der Verzweiflung spürte und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr, denn „solch ein Unrecht könne doch nicht von Dauer sein“. Doch es dauerte bis zum Jahr 2016, bis Monika Holzer die alte Heimat kennenlernen konnte. Anni von Doh
len hatte sich bereits 1990 in den Ort ihrer Kindheit, Niklasdorf im Sudetenland, aufgemacht. Die Narben der Vertreibung spürt Roswitha
Westphal aus Stadtbergen, heute 85 Jahre alt, noch heute: „Ich fühle mich noch immer ‚heimatlos‘. Im Herzen bin ich ein Ostpreuße.“
Dass sie die Vertriebenen und Flüchtlinge möglichst bald wieder los sein würden, das war wohl auch der Glaube bei einigen Einheimischen. Der Vater von Barbara Wolf und Gerlinde Zerle aus Ehingen war nach dem Zweiten Weltkrieg Bürgermeister und in dem kleinen Ort dafür zuständig, die Flüchtlinge unterzubringen. Manchmal konnten die Flüchtlinge so zugeteilt werden, dass sie auf einem Bauernhof helfen konnten. Manchmal hieß es aber auch: „Bürgermeister, warum tust du uns das an und schickst uns die?“Die Kinder bekamen gleichzeitig am eigenen Leib zu spüren, dass sie nicht überall erwünscht waren. Luise Wölze
müller aus Vallried, deren Mutter einen vertriebenen Schlesier geheiratet hatte, erinnert sich, dass sie in Stadtbergen immer „Polackenziefern“genannt wurde, ein bayerisches Dialekt-Schimpfwort für liederliche Frauenzimmer aus Polen. Anderswo wurden die Vertriebenen „Hura“- oder „Hurra“-Flüchtlinge, also verdammte Flüchtlinge, gerufen. Da gab es oft schwere Missverständnisse, hat Eva
Braunmiller aus Gersthofen berichtet. Auch Helmtraut Lederer aus Gersthofen erinnert sich an das Gefühl, als Kind nicht überall erwünscht gewesen zu sein.
Und doch gab es auch freundliche Aufnahmen. „Schließlich haben die Vertriebenen auch geholfen, den Wohlstand in der Bundesrepublik aufzubauen“, fasst Kreisheimatpflegerin Claudia Ried zusammen. Josef
Pfister aus Neusäß war sechs Jahre alt, als er nach Schwaben kam. Da hatte er als Donauschwabe schon zwei Jahre Flucht hinter sich. Heute sagt er: „Wenn Menschen aufeinander zugehen, jeder seinen Beitrag zur Verständigung leistet, dazu beiträgt, eine demokratische Gesellschaftsordnung zu unterstützen, wenn diese gefördert und beachtet wird, dann kann auch heutzutage Völkerverständigung und Integration gelingen.“