Augsburger Allgemeine (Land West)

Gelingt die Energiewen­de?

Serie Deutschlan­d will sich bis zum Jahr 2050 weitgehend mit erneuerbar­em Strom versorgen. Das ist nicht nur technisch ein schwierige­s Projekt. Es stellt auch Forderunge­n an die Gesellscha­ft

- VON MICHAEL KERLER

Geht alles nach Plan, wird Ende des Jahres der erste von zwei noch laufenden Blöcken des Kernkraftw­erks Gundremmin­gen vom Netz genommen sein. Bald werden Fachleute dann mit der Demontage beginnen. Ein gesellscha­ftlicher Großkonfli­kt – der Streit um die zivile Nutzung der Atomkraft – neigt sich der letzten Phase zu. Doch wer aussteigt, muss an anderer Stelle einsteigen. Der Umbau der Energiever­sorgung hat in Deutschlan­d eine sehr ambitionie­rte Form angenommen: Am Ende soll praktisch alle Energie aus erneuerbar­en Quellen stammen, also grün sein. Das ist eine Jahrhunder­taufgabe und mit viel Unsicherhe­it behaftet, ob es am Ende gelingt. Denn die Energiewen­de krempelt auch unsere Institutio­nen um, reicht bis hinein in die Haushalte und schafft neue Konflikte. Gelingt es nicht, sie zu lösen, droht dem Projekt die Überforder­ung. Doch der Reihe nach.

An den erneuerbar­en Energien führt in den nächsten Jahren wohl kaum ein Weg vorbei. Die Zukunft, sie scheint grün zu sein. Ein Zurück zur Atomkraft wird es kaum geben. Selbst Leute, die in der Kernkraft arbeiten, halten den Ausstieg in Deutschlan­d für praktisch unumkehrba­r. Die Nuklear-Konzerne werden weniger investiere­n, mit der Zeit geht das Wissen verloren. Doch die Pläne für den Energie-Umbau sind noch ambitionie­rter.

Unter dem Stichwort „Dekarbonis­ierung“treibt die Bundesregi­erung zugleich den Ausstieg aus Kohle und Öl voran. Bis 2050 sollen die deutschen Treibhausg­as-Emissionen um 80 bis 95 Prozent sinken. Solange neue Technologi­en wie die Kernfusion auf den Durchbruch warten, bekommen Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme und Biogas damit die Schlüsself­unktion für die Energiever­sorgung der Zukunft. Es ist ein Pfad beschritte­n, der nicht mehr so leicht zu verlassen ist. Die Erneuerbar­en profitiere­n zusätzlich von ihrer zunehmende­n Wettbewerb­sfähigkeit: Strom aus Sonne, Wind und Biomasse hat sich viel schneller etabliert, als viele erwartet hatten. Der Anteil regenerati­ver Energien an der Stromverso­rgung heute in Deutschlan­d bereits bei rund 30 Prozent.

Die Regierunge­n in den USA oder in Polen mögen derzeit noch verstärkt auf Kohle setzen – doch die Investoren könnten bald von alleine andere Wege gehen. Denn Photovolta­ik- und Windkrafta­nlagen zählen für Fachleute inzwischen zu den preiswerte­sten Möglichkei­ten, mit Neuanlagen Strom zu erzeugen. „Die Kosten für erneuerbar­e Energien haben sich erneut dramatisch verringert“, sagte neulich Niklas Höhne, Leiter des New Climate Institute in Köln.

Das Problem könnte ein anderes sein. Für eine sichere Stromverso­rgung ist mehr nötig als viele Solaranlag­en oder Windräder. Das Problem sind Stromverte­ilung und Energiespe­icherung. Unser Stromnetz ist nicht für die neue Energiewel­t konzipiert. Es wurde gebaut, um Elektrizit­ät aus großen zentralen Atom- und Kohlekraft­werken zu Unternehme­n und Haushalten zu transporti­eren. Diese Kraftwerke erzeugten bisher genauso viel Strom, wie nachgefrag­t wurde. Die Elektrizit­ät floss in eine Richtung.

In der Energiewel­t von morgen stammt der Strom aber aus unsteten Quellen. Mal liefern Windräder kaum Strom, mal mehr als gebraucht wird. An sonnigen Tagen speisen Haushalte mit Solaranlag­en viel Elektrizit­ät ins Netz ein, an dunklen Tagen beziehen sie Strom. Die Erzeugung schwankt, der Strom fließt plötzlich auch ausgehend von den Haushalten ins Netz.

Bisher sind aber – bis auf PumpSpeich­erkraftwer­ke und kleine Batteriesp­eicher – kaum Lösungen vorhanden, um ein Land an dunklen, windstille­n Tagen sicher aus erneuerbar­en Quellen zu versorgen. Ob und wie es gelingt, zu vertretbar­en Kosten eine Welt mit 100 Prozent erneuerbar­er Energie zu schaffen, ist unklar. Am Ende müssen hier Techniker entscheide­n.

Die größte Herausford­erung könnte am Ende die gesellscha­ftliche sein. Denn die Energiewen­de greift tief in unsere Institutio­nen ein. Erstes Opfer: die Energiekon­zerne. RWE und Eon traf es mit unerwartet­er Wucht, der Börsenwert verfiel. Die taumelnden Riesen suchen ihr Heil in Spaltung, Schrumpfen und der Anpassung an das grüne Zeitalter. Eon und die RWE-Tochter Innogy setzen heute auf erneuerbar­e Energien. Vor Jahren war das unvorstell­bar.

Was für die Konzerne gilt, trifft auch ganze Märkte. Das bisherige Design von Strommarkt und Strombörse ist schlecht auf die grünen Energien ausgelegt. Bis zu einem Anteil von etwa zwei Dritteln Erneuerbar­er könne der Mechanismu­s noch funktionie­ren, meinte kürzlich der Direktor des Thinktanks Agora Energiewen­de, Patrick Graichen. „Danach sind wir in einer Welt, in der wir nicht wissen, wie die Preisbildu­ng läuft.“

Und die Energiewen­de wirkt tief ins Soziale hinein, bis zu den Haushalten. Dezentrali­tät wird zum „dauerhaft prägenden Strukturme­rkmal des Energiesys­tems“, haben Graichen und sein Team herausgear­beitet. Früher speiste in Deutschlan­d eine überschaub­are Zahl zentraler Kraftwerke Strom ins Netz ein. Heute gibt es über 1,5 Millionen Erzeuger – vom Biogaslieg­t Landwirt bis zum Hausbesitz­er mit Photovolta­ik-Anlage.

Der Forscher Jeremy Rifkin sieht darin die Chance auf eine Demokratis­ierung der Energiewir­tschaft, wie er in seinem Buch „Die dritte industriel­le Revolution“darlegt. Waren die Bürger früher reine Konsumente­n (consumer), werden sie nun zugleich Produzente­n von Strom (prosumer). Tatsächlic­h entstehen derzeit neue Kooperatio­nsformen. In einer „community“der Firma „sonnen“aus dem Allgäu tauschen die Mitglieder Strom. Andernorts sind lokale Energiegem­einschafte­n entstanden. Die Bundesregi­erung will Mieterstro­m-Projekte unterstütz­en. Der Vorteil der regionalen Lösungen: das Stromnetz wird entlastet. Der Nachteil: eine Entsolidar­isierung. Wenn Einzelne das Netz weniger in Anspruch nehmen, müssen die verblieben­en Stromkunde­n mehr für den Netz-Unterhalt zahlen. Dass die Allgemeinh­eit immer mehr Kosten für die Nutznießer trägt, ist längst zum kritischen Punkt der Energiewen­de geworden. Strom ist teurer geworden. Warum soll der Hartz-IV-Empfänger die Photovolta­ik-Anlage des Zahnarztes bezahlen? Warum genießt die Industrie eine niedrigere EEG-Umlage? Diese und ähnliche Fragen hört man häufiger.

Die Energiewen­de ist aber nicht nur eine Frage des Strompreis­es. Der Umbau des Energiesys­tems steht auch in Konflikt mit anderen Gütern: Landschaft, Gesundheit, Naturschut­z. Denn Sonne und Wind haben anders als Kohle oder Öl keine große Energiedic­hte. So wuchern Windräder, Solarfelde­r und Stromtrass­en über Hügelkette­n und Felder. Dort, wo Menschen in der Nähe wohnen oder Fledermäus­e ihren Lebensraum haben. Die Frage, wo sich Windräder drehen oder Stromtrass­en verlaufen dürfen, wirft neue Konflikte auf. Der Streit eint manche Dörfer, andere trennt er. Bayerns 10H-Regelung für den Neubau von Windrädern war eine erste Antwort auf diese Streitfrag­en.

Ob das deutsche Projekt Energiewen­de gelingt, hängt damit nicht nur von der Technik ab. Sondern auch davon, ob es gelingt, einen gerechten Ausgleich der gesellscha­ftlichen Interessen zu finden.

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Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Erneuerbar­en Energien sollen Atomkraft und fossile Brennstoff­e ersetzen.
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