Augsburger Allgemeine (Land West)
Gelingt die Energiewende?
Serie Deutschland will sich bis zum Jahr 2050 weitgehend mit erneuerbarem Strom versorgen. Das ist nicht nur technisch ein schwieriges Projekt. Es stellt auch Forderungen an die Gesellschaft
Geht alles nach Plan, wird Ende des Jahres der erste von zwei noch laufenden Blöcken des Kernkraftwerks Gundremmingen vom Netz genommen sein. Bald werden Fachleute dann mit der Demontage beginnen. Ein gesellschaftlicher Großkonflikt – der Streit um die zivile Nutzung der Atomkraft – neigt sich der letzten Phase zu. Doch wer aussteigt, muss an anderer Stelle einsteigen. Der Umbau der Energieversorgung hat in Deutschland eine sehr ambitionierte Form angenommen: Am Ende soll praktisch alle Energie aus erneuerbaren Quellen stammen, also grün sein. Das ist eine Jahrhundertaufgabe und mit viel Unsicherheit behaftet, ob es am Ende gelingt. Denn die Energiewende krempelt auch unsere Institutionen um, reicht bis hinein in die Haushalte und schafft neue Konflikte. Gelingt es nicht, sie zu lösen, droht dem Projekt die Überforderung. Doch der Reihe nach.
An den erneuerbaren Energien führt in den nächsten Jahren wohl kaum ein Weg vorbei. Die Zukunft, sie scheint grün zu sein. Ein Zurück zur Atomkraft wird es kaum geben. Selbst Leute, die in der Kernkraft arbeiten, halten den Ausstieg in Deutschland für praktisch unumkehrbar. Die Nuklear-Konzerne werden weniger investieren, mit der Zeit geht das Wissen verloren. Doch die Pläne für den Energie-Umbau sind noch ambitionierter.
Unter dem Stichwort „Dekarbonisierung“treibt die Bundesregierung zugleich den Ausstieg aus Kohle und Öl voran. Bis 2050 sollen die deutschen Treibhausgas-Emissionen um 80 bis 95 Prozent sinken. Solange neue Technologien wie die Kernfusion auf den Durchbruch warten, bekommen Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme und Biogas damit die Schlüsselfunktion für die Energieversorgung der Zukunft. Es ist ein Pfad beschritten, der nicht mehr so leicht zu verlassen ist. Die Erneuerbaren profitieren zusätzlich von ihrer zunehmenden Wettbewerbsfähigkeit: Strom aus Sonne, Wind und Biomasse hat sich viel schneller etabliert, als viele erwartet hatten. Der Anteil regenerativer Energien an der Stromversorgung heute in Deutschland bereits bei rund 30 Prozent.
Die Regierungen in den USA oder in Polen mögen derzeit noch verstärkt auf Kohle setzen – doch die Investoren könnten bald von alleine andere Wege gehen. Denn Photovoltaik- und Windkraftanlagen zählen für Fachleute inzwischen zu den preiswertesten Möglichkeiten, mit Neuanlagen Strom zu erzeugen. „Die Kosten für erneuerbare Energien haben sich erneut dramatisch verringert“, sagte neulich Niklas Höhne, Leiter des New Climate Institute in Köln.
Das Problem könnte ein anderes sein. Für eine sichere Stromversorgung ist mehr nötig als viele Solaranlagen oder Windräder. Das Problem sind Stromverteilung und Energiespeicherung. Unser Stromnetz ist nicht für die neue Energiewelt konzipiert. Es wurde gebaut, um Elektrizität aus großen zentralen Atom- und Kohlekraftwerken zu Unternehmen und Haushalten zu transportieren. Diese Kraftwerke erzeugten bisher genauso viel Strom, wie nachgefragt wurde. Die Elektrizität floss in eine Richtung.
In der Energiewelt von morgen stammt der Strom aber aus unsteten Quellen. Mal liefern Windräder kaum Strom, mal mehr als gebraucht wird. An sonnigen Tagen speisen Haushalte mit Solaranlagen viel Elektrizität ins Netz ein, an dunklen Tagen beziehen sie Strom. Die Erzeugung schwankt, der Strom fließt plötzlich auch ausgehend von den Haushalten ins Netz.
Bisher sind aber – bis auf PumpSpeicherkraftwerke und kleine Batteriespeicher – kaum Lösungen vorhanden, um ein Land an dunklen, windstillen Tagen sicher aus erneuerbaren Quellen zu versorgen. Ob und wie es gelingt, zu vertretbaren Kosten eine Welt mit 100 Prozent erneuerbarer Energie zu schaffen, ist unklar. Am Ende müssen hier Techniker entscheiden.
Die größte Herausforderung könnte am Ende die gesellschaftliche sein. Denn die Energiewende greift tief in unsere Institutionen ein. Erstes Opfer: die Energiekonzerne. RWE und Eon traf es mit unerwarteter Wucht, der Börsenwert verfiel. Die taumelnden Riesen suchen ihr Heil in Spaltung, Schrumpfen und der Anpassung an das grüne Zeitalter. Eon und die RWE-Tochter Innogy setzen heute auf erneuerbare Energien. Vor Jahren war das unvorstellbar.
Was für die Konzerne gilt, trifft auch ganze Märkte. Das bisherige Design von Strommarkt und Strombörse ist schlecht auf die grünen Energien ausgelegt. Bis zu einem Anteil von etwa zwei Dritteln Erneuerbarer könne der Mechanismus noch funktionieren, meinte kürzlich der Direktor des Thinktanks Agora Energiewende, Patrick Graichen. „Danach sind wir in einer Welt, in der wir nicht wissen, wie die Preisbildung läuft.“
Und die Energiewende wirkt tief ins Soziale hinein, bis zu den Haushalten. Dezentralität wird zum „dauerhaft prägenden Strukturmerkmal des Energiesystems“, haben Graichen und sein Team herausgearbeitet. Früher speiste in Deutschland eine überschaubare Zahl zentraler Kraftwerke Strom ins Netz ein. Heute gibt es über 1,5 Millionen Erzeuger – vom Biogasliegt Landwirt bis zum Hausbesitzer mit Photovoltaik-Anlage.
Der Forscher Jeremy Rifkin sieht darin die Chance auf eine Demokratisierung der Energiewirtschaft, wie er in seinem Buch „Die dritte industrielle Revolution“darlegt. Waren die Bürger früher reine Konsumenten (consumer), werden sie nun zugleich Produzenten von Strom (prosumer). Tatsächlich entstehen derzeit neue Kooperationsformen. In einer „community“der Firma „sonnen“aus dem Allgäu tauschen die Mitglieder Strom. Andernorts sind lokale Energiegemeinschaften entstanden. Die Bundesregierung will Mieterstrom-Projekte unterstützen. Der Vorteil der regionalen Lösungen: das Stromnetz wird entlastet. Der Nachteil: eine Entsolidarisierung. Wenn Einzelne das Netz weniger in Anspruch nehmen, müssen die verbliebenen Stromkunden mehr für den Netz-Unterhalt zahlen. Dass die Allgemeinheit immer mehr Kosten für die Nutznießer trägt, ist längst zum kritischen Punkt der Energiewende geworden. Strom ist teurer geworden. Warum soll der Hartz-IV-Empfänger die Photovoltaik-Anlage des Zahnarztes bezahlen? Warum genießt die Industrie eine niedrigere EEG-Umlage? Diese und ähnliche Fragen hört man häufiger.
Die Energiewende ist aber nicht nur eine Frage des Strompreises. Der Umbau des Energiesystems steht auch in Konflikt mit anderen Gütern: Landschaft, Gesundheit, Naturschutz. Denn Sonne und Wind haben anders als Kohle oder Öl keine große Energiedichte. So wuchern Windräder, Solarfelder und Stromtrassen über Hügelketten und Felder. Dort, wo Menschen in der Nähe wohnen oder Fledermäuse ihren Lebensraum haben. Die Frage, wo sich Windräder drehen oder Stromtrassen verlaufen dürfen, wirft neue Konflikte auf. Der Streit eint manche Dörfer, andere trennt er. Bayerns 10H-Regelung für den Neubau von Windrädern war eine erste Antwort auf diese Streitfragen.
Ob das deutsche Projekt Energiewende gelingt, hängt damit nicht nur von der Technik ab. Sondern auch davon, ob es gelingt, einen gerechten Ausgleich der gesellschaftlichen Interessen zu finden.