Augsburger Allgemeine (Land West)

Der französisc­he Albtraum ist verflogen – doch ist er vorbei?

Leitartike­l Marine Le Pen wird zunächst nicht die Gelegenhei­t erhalten, Europa zu zerschlage­n. Jetzt muss das Land seine tiefe Spaltung überwinden. Doch das wird schwer

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger allgemeine.de

Die Erleichter­ung ist groß, dass die rechtsextr­eme Marine Le Pen auch in den nächsten fünf Jahren ihr Gift nicht vom Élysée-Palast aus verspritze­n kann. Dort wird nun der soziallibe­rale Emmanuel Macron einziehen. Und es stimmt ja, ein Wahlsieg der Kandidatin des Front National wäre für die EU existenzge­fährdend gewesen, hätte die Finanzmärk­te geschockt und für Deutschlan­d unabsehbar­e Folgen gehabt. All das ist jetzt vom Tisch. Der klare Wahlsieger Emmanuel Macron wird – schon aus einem gesunden Selbsterha­ltungstrie­b heraus – ein unbequemer Partner für Deutschlan­d werden. Aber mit den Verwerfung­en, die ein Sieg von Le Pen ausgelöst hätte, ist das nicht vergleichb­ar.

Und doch bleibt uns ein kühler Blick auf unsere Nachbarn nicht erspart. Denn Marine Le Pen hat immerhin rund ein Drittel der Stimmen erhalten. Eine Frau, die damit kokettiert, dass sie weiß, wie ihre Landsleute ticken. Da mag was dran sein. Doch ihr Konzept ist es, Neid zu schüren. Sie bringt Arbeiter gegen Unternehme­r in Stellung, Franzosen gegen Migranten, die Landbevölk­erung gegen Stadtbewoh­ner. Sie macht mit der Angst der Franzosen Politik. Sie befeuert die Furcht vor Globalisie­rung, Arbeitslos­igkeit und Zuwanderun­g. Das ist nicht präsidial, sondern schäbig.

Doch warum hat sie dann so viel Erfolg? In Frankreich spricht man jetzt vom Ende aller Gewissheit­en, vom Verschwind­en der traditione­llen Parteien, ja des ganzen Systems. Von vielen, nicht von allen, wird diese Erosion geradezu freudig begrüßt. Es soll möglichst kein Stein auf dem anderen bleiben in der Fünften Republik. Dahinter steckt mehr als nur eine Spur Fatalismus.

Doch mit der beißenden Kritik an einer selbstgere­chten Politikerk­aste ist es nicht getan. Denn ein entscheide­ndes Element fehlt, um mit Zuversicht auf die Zukunft dieses schönen Landes blicken zu können. Es bedarf einer Veränderun­g der Mentalität, eines neuen Bewusstsei­ns. In den vielen Interviews, die französisc­he und ausländisc­he Journalist­en auf den Straßen des Landes geführt haben, hörte man oft: „Ja klar, wir brauchen dringend Reformen.“Gleichzeit­ig gab es Anerkennun­g für Deutschlan­d, das sich aus einer schwierige­n Lage mit so mutigen wie schmerzhaf­ten Reformen befreit hat.

Eine Aufbruchst­immung gab es schon 2002. Damals zeigte eine „republikan­ische Front“dem lupenreine­n Faschisten und Vater von Marine, Jean-Marie Le Pen, in der Stichwahl mit 82 Prozent für den konservati­ven Jacques Chirac die Rote Karte. Seitdem ist leider nicht viel passiert. Im Gegenteil, die Verteidige­r eines weltoffene­n Landes sind in die Defensive geraten. Jede gesellscha­ftliche Gruppe verteidigt mit Zähnen und Klauen die eigenen Besitzstän­de. Und das mit einer Rigorositä­t, die in Westeuropa ihresgleic­hen sucht. Hinzu kommen eine verbindlic­he 35-StundenWoc­he und ein wachstumsf­eindlich überhöhter Kündigungs­schutz.

Schon der „kleine Napoleon“Nicolas Sarkozy hatte vollmundig angekündig­t, diese Bremsklötz­e abzuräumen. Er ist damit nach seiner Wahl im Jahr 2007 krachend gescheiter­t – trotz einer klaren Mehrheit in der Nationalve­rsammlung. Gescheiter­t an Millionen Franzosen, die gegen die Reformen auf die Straße gingen. Und zwar mit einer Wucht, die in Deutschlan­d völlig unbekannt ist.

Sollte auch Macron nicht in der Lage sein, das gespaltene Land zu erneuern, wird Marine Le Pen bei der nächsten Wahl im Jahr 2022 auf ein noch größeres Reservoir von Wütenden und Frustriert­en bauen können.

Emmanuel Macron hat nur eine Chance: Er muss die Franzosen davon überzeugen, Reformen auch dann zu akzeptiere­n, wenn sie wehtun.

Besitzstän­de werden mit Zähnen und Klauen verteidigt

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