Augsburger Allgemeine (Land West)
Ein Zufluchtsort für Igor
Tierschutz Sie wurden illegal gehalten, lebten eingepfercht in Zirkuswagen, dienten als Attraktionen im Rotlichtmilieu. In Ansbach finden gequälte Tiere seit Jahren ein neues Zuhause. Doch nun droht dem Raubkatzenasyl das Aus
Die grün-gelben Augen folgen jeder Bewegung. Ruhig liegt Igor auf dem Steg, die Tatzen seitlich angewinkelt, sein Fell glänzt. Nur die Schwanzspitze zuckt. „Er beobachtet uns genau“, sagt Pfleger Olaf Neuendorf und nähert sich dem Gitter. Igor reagiert sofort. Fast lautlos gleitet er von den Holzplanken, springt mit einem geschmeidigen Satz an den Rand des Geheges und bleckt seine fingerlangen Zähne. Fauchend richtet sich der Tiger an den Eisenstangen auf, respekteinflößend, nicht kuschelig. Igor verteidigt sein Revier. Er ist ein Wildtier, auch wenn er in Obhut von Menschen geboren wurde. Für ihn, wie für viele andere Bewohner hier, ist das Raubkatzenasyl in Ansbach das einzig mögliche Zuhause.
Das Raubtier- und Exotenasyl ist ein gemeinnütziger Verein, der vor zehn Jahren von Tierfreunden gegründet wurde. Auf dem 6000 Quadratmeter großen Grundstück am Waldrand leben fünf Tiger, ein Luchs, eine Polarfüchsin, Bengalkatzen, ein Puma und Affen. Bereits kurz hinter dem Eingangstor warnt ein Schild: „Achtung Lebensgefahr“. Ein Meter Sicherheitsabstand muss zu allen Käfigen eingehalten werden, ein Streichelzoo ist das nicht. Die hier untergekommenen Tiere sind Exoten, sie stammen aus illegaler oder schlechter Haltung, lebten zuvor eingepfercht in Zirkuswagen oder dienten als Attraktion im Rotlichtmilieu.
„Wir wollen ihnen ein neues Heim geben“, sagt Olaf Neuendorf. Der 56-Jährige ist Vorsitzender des Vereins, Leiter des Asyls und hauptamtlicher Tierpfleger. Gemeinsam mit Bundesfreiwilligendienstlern, Praktikanten und Ehrenamtlichen kümmert er sich tagtäglich und so manche Nacht um „seine“Tiere und die Einrichtung, die nur über Spenden finanziert wird. Nachdem der Verein das Gelände 2009 von einem insolventen Tierschutzverein übernommen hatte, klappte das gut. Nun allerdings will der Besitzer das Grundstück verkaufen, dem Asyl droht das Aus. Was wird dann aus Igor & Co.?
Igor ist einer von drei sibirischen Tigern, die 2006 in Ansbach zur Welt kamen. Seine Eltern und die ältere Schwester Kiara gehörten einem Zirkus, dem das Geld ausging. Die Tigerfamilie wurde ins Raubkatzenasyl gebracht. Eigentlich gilt dort: Alle Tiere müssen kastriert sein, denn „wir wollen uns kümmern, nicht selbst züchten“, sagt Neuendorf. Die Tigermutter allerdings war trächtig, und so wurden Igor und seine beiden Brüder in einem Käfig der Einrichtung geboren. Heute wiegt er stattliche 240 Kilo, ist aber rund 30 Zentimeter kleiner als Artgenossen in Freiheit.
Sein Vater Tiger und Kiara leben noch immer zusammen im Gehege. Wachsam streicht das Weibchen am Gitter entlang. Der vordere Teil ihres Reviers ist braunbeige gefliest, hinten bedecken Holzschnitzel den Boden. Keine ideale Lösung. „Wir würden gerne neue, naturbelassenere Käfige bauen“, sagt Neuendorf. Mit Holz, Ästen und viel Grün. Doch für den Umbau der alten Anlagen, die der Vorgängerverein gebaut hat, fehlt das Geld. Trotzdem sollen es die „Tiere so angenehm wie möglich“haben: Tannenbäume zur Fellpflege lehnen an den Wänden, dicke Stämme, Autoreifen oder abgewetzte Medizinbälle dienen als Spielzeug. Und ein mit Pferdeäpfeln gefüllter Jutesack.
Mit einem lauten Schnauben untersucht Kiara die Beute, schüttelt sie mit den Zähnen, kratzt mit den Krallen über den Stoff. Als Tiger mitspielen will, faucht sie. „Der Vater hat nichts zu melden, sie ist die Dominante“, sagt Neuendorf. Tiger kapituliert. Wie eine Hauskatze legt er sich zwischen die Tannen und leckt sich die Tatzen. Der Blick aus den runden Augen aber ist wachsam und wild, selbst durch die Gitter spürt man die Kraft des Tieres.
Am späten Vormittag, wenn die Freigehege gereinigt sind, sind die draußen. Um 8 Uhr hat der Tag im Raubkatzenasyl mit einer Sicherheitskontrolle begonnen. Ein Pfleger überprüft die Gitter, dann werden die Käfige gesäubert, wird mit den Tieren gespielt, das Futter vorbereitet. Höhepunkt des Tages ist die Fütterung um 17 Uhr. „Jeder bekommt seine Portion, heute gibt es zum Beispiel Reh“, sagt Neuendorf. Ein Tiger allein frisst sechs bis acht Kilo Fleisch am Tag. Monatlich kämen so um die 1000 Euro Futterkosten zusammen, erklärt er auf dem Weg vom Tigerrevier zu Luchsweibchen Anubis.
Links zwitschern Vögel, rechts, in den Gehegen, schnauben die Wildtiere. Schmale Pfade führen durch das Asyl. Wenn sich hier, einmal im Monat am Tag der offenen Tür, bis zu 1000 Besucher drängen, wird es eng. Der Rundgang weckt ähnliche Gefühle wie Zoos oder Wildparks: Bewunderung für die Eleganz der Raubtiere mischt sich mit Unbehagen, diese hinter Gittern zu sehen. Und doch geht es den Exoten deutlich besser als bei ihren Vorbesitzern. „Kein Tier, das zu uns kommt, darf sich bei Haltung und Lebensbedingungen verschlechtern“, sagt Neuendorf. Pumaweibchen Pünktchen etwa wurde auf einem Grundstück in der Lausitz in einem feuchten und viel zu kleinen Verschlag gehalten, ihr Wassernapf war verschmutzt, Auslauf gab es nicht. 1999 beschlagnahmten die Behörden das Tier, Pünktchen zog ins Asyl. Heute ist sie mit 20 Jahren die Seniorin der Einrichtung und „bekommt ihr Futter wegen Zahnproblemen als Gulaschwürfel serviert“, sagt Neuendorf und lächelt unter seiner dunklen Schirmmütze.
Seit mehr als 25 Jahren arbeitet er als Tierpfleger. Eigentlich, erzählt der 56-Jährige, sei er Werkzeugmacher, habe bei der Armee in Ostdeutschland aber lange Zeit Diensthunde ausgebildet. Nach der Wende bewarb sich Neuendorf auf eine Anzeige, in der ein Pfleger zur Raubtierhaltung gesucht wurde. So kam er auf das Anwesen in Ansbach, auf dem ein Architekt damals noch privat mehrere Raubkatzen hielt. Aus Fachbüchern und in der Praxis lernte Neuendorf den Umgang mit den Tieren, mittlerweile besitzt er die offizielle Sachkunde. Bereut hat er den Wechsel nie. Die Tiere und er, sie kennen sich, leiden sie, scheint es ihn auch zu treffen.
Stolz bleibt der Pfleger vor dem Luchsgehege stehen. Anubis liegt auf einer kleinen AussichtsplattTiere form, das Freigehege hat der Verein extra für sie geschaffen. Fliesen gibt es hier nicht, stattdessen Blätter, Zweige und ein gezimmertes Schlafhäuschen, „das die Dame aber nie nutzt“, lacht Neuendorf. Genau so, das kann er nicht verbergen, wünscht sich der 56-Jährige die Gehege all seiner Schützlinge. Für die Tiger und Bengalkatzen, die Frettchen und Affen, die Polarfüchsin mit dem netten kleinen Gesichtchen. Aber dazu fehlt das Geld.
600000 Euro muss der Verein bis zum Frühsommer aufbringen, wenn er das Waldgrundstück kaufen und weiter als Asyl nutzen will. Denn ausgewildert werden können die Tiere nach lebenslanger Gefangenschaft nicht. „Der derzeitige Eigentümer will wegen gesundheitlicher Probleme an uns verkaufen“, sagt Neuendorf. Über Spendenaufrufe, Besuchstage, Patenschaften und die Aktion „Rettet den Tigerwald“soll das Geld zusammenkommen. Einen Plan B gibt es nicht. „Wir haben eine Verantwortung für die Tiere und der müssen wir gerecht werden“, sagt der Pfleger.
In Deutschland sei das Raubkatzenasyl Ansbach einmalig, bestätigt eine Sprecherin des Deutschen Tierschutzbundes. Europaweit gebe es nur wenige weitere Auffangstationen. Seit vielen Jahren kämpften solche Einrichtungen mit mangelnder Unterstützung von Kommunen und Staat, zu vielen asylsuchenden Tieren und begrenzten Platzverhältnissen. Und Zoos seien oft keine Alternative, da sie beschlagnahmte Tiere und ausgediente Zirkustiere ohne Zuchtbücher nicht dauerhaft aufnehmen können. Daher „sehen wir die Notwendigkeit, dass der Verein erhalten bleibt“, sagt die Sprecherin. Und sie betont: „Eigentlich müssten Bund, Länder und auch Kommunen Auffangstationen bauen, denn diese lassen den Handel und die Haltung der Tiere in privater Hand immer noch zu.“
Staatliche Unterstützung aber gibt es für das Raubkatzenasyl derzeit nicht. Ende März ist im Umweltausschuss des Bayerischen Landtags ein Antrag, dem Asyl finanziell zu helfen, abgelehnt worden. 50000 Euro hatten die Freien Wähler an Zuschüssen für den Betrieb der Einrichtung gefordert. Die CSU-Fraktion aber lehnte den Antrag ab.
So sind Neuendorf und seine ehrenamtlichen Mitstreiter weiter auf Spenden und Mitgliedsbeiträge angewiesen, um ein Zuhause für die Tiere zu schaffen. Trotz aller Nöte werden die Wildkatzen in Ansbach nicht nur gehalten, sondern umsorgt. Jedes Tier bekommt zum Geburtstag ein Geschenk, manchmal einen selbst gemachten Kuchen, manchmal eine kleine Feier. An verstorbene Tiere erinnern Holzkreuze mit aufgemalten Herzen. Für Neuendorf sind seine Schützlinge mehr als nur ein Beruf. In seinem Büro hängt ein Bild von ihm mit Tigerin Rhani, die er mit der Flasche aufgezogen hat. Mit sechs Wochen kam sie ins Asyl, er stand mit ihr in kurzen Hosen im Badebecken, ging mit ihr an der Leine auf dem Grundstück spazieren. Fast 22 Jahre wurde die Tigerin, Neuendorf war bei ihr, „bis zum bitteren Ende“. Der Pfleger schluckt. „Es war ein besonderes Tier.“
Solche Nähe zwischen Mensch und Tier ist bei Igor und seinen Brüdern nicht möglich. Die Tigerjungs wurden von ihrer Mutter erzogen, sie sind wild. Auch eine Bedrohung? Eine Anwohnerin habe einmal mit Unterschriften gegen das Asyl protestiert, sie hatte Angst um ihr Kind, sagt Neuendorf. Die Aktion sei ohne Folgen geblieben. „Es kann etwas passieren, aber dann müssen wir einen Fehler machen. Das ist wie in jedem Zoo“, sagt er und lässt dabei Igor nicht aus den Augen.
Der Tiger liegt wieder entspannt auf seinem Holzsteg. Im Gehege dahinter schleicht sein Bruder Boris am Gitter entlang, ab und an bläst er. Das sei eine Art „Hallo“in der Tigersprache, sagt Neuendorf. Er kennt seine Tiere genau. „Wenn eine Raubkatze nah an den Käfigrand kommt und den Schwanz anhebt, dann nichts wie weg“, sagt der Pfleger und grinst. Neugierigen Besuchern spritzten die Tiger gerne mal einen Schwall Urin auf die Jacke. Heute lässt Igor die Menschen vor seinem Revier trocken davonkommen. Der Tiger gähnt und beschränkt sich aufs Beobachten. Sein Blick aus den grüngelben Augen bohrt sich ins Gedächtnis.
„Wir haben eine Verantwortung für die Tiere, und der müssen wir gerecht werden.“ Olaf Neuendorf Leiter des Asyls