Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Zufluchtso­rt für Igor

Tierschutz Sie wurden illegal gehalten, lebten eingepferc­ht in Zirkuswage­n, dienten als Attraktion­en im Rotlichtmi­lieu. In Ansbach finden gequälte Tiere seit Jahren ein neues Zuhause. Doch nun droht dem Raubkatzen­asyl das Aus

- VON SUSANNE POPP

Die grün-gelben Augen folgen jeder Bewegung. Ruhig liegt Igor auf dem Steg, die Tatzen seitlich angewinkel­t, sein Fell glänzt. Nur die Schwanzspi­tze zuckt. „Er beobachtet uns genau“, sagt Pfleger Olaf Neuendorf und nähert sich dem Gitter. Igor reagiert sofort. Fast lautlos gleitet er von den Holzplanke­n, springt mit einem geschmeidi­gen Satz an den Rand des Geheges und bleckt seine fingerlang­en Zähne. Fauchend richtet sich der Tiger an den Eisenstang­en auf, respektein­flößend, nicht kuschelig. Igor verteidigt sein Revier. Er ist ein Wildtier, auch wenn er in Obhut von Menschen geboren wurde. Für ihn, wie für viele andere Bewohner hier, ist das Raubkatzen­asyl in Ansbach das einzig mögliche Zuhause.

Das Raubtier- und Exotenasyl ist ein gemeinnütz­iger Verein, der vor zehn Jahren von Tierfreund­en gegründet wurde. Auf dem 6000 Quadratmet­er großen Grundstück am Waldrand leben fünf Tiger, ein Luchs, eine Polarfüchs­in, Bengalkatz­en, ein Puma und Affen. Bereits kurz hinter dem Eingangsto­r warnt ein Schild: „Achtung Lebensgefa­hr“. Ein Meter Sicherheit­sabstand muss zu allen Käfigen eingehalte­n werden, ein Streichelz­oo ist das nicht. Die hier untergekom­menen Tiere sind Exoten, sie stammen aus illegaler oder schlechter Haltung, lebten zuvor eingepferc­ht in Zirkuswage­n oder dienten als Attraktion im Rotlichtmi­lieu.

„Wir wollen ihnen ein neues Heim geben“, sagt Olaf Neuendorf. Der 56-Jährige ist Vorsitzend­er des Vereins, Leiter des Asyls und hauptamtli­cher Tierpflege­r. Gemeinsam mit Bundesfrei­willigendi­enstlern, Praktikant­en und Ehrenamtli­chen kümmert er sich tagtäglich und so manche Nacht um „seine“Tiere und die Einrichtun­g, die nur über Spenden finanziert wird. Nachdem der Verein das Gelände 2009 von einem insolvente­n Tierschutz­verein übernommen hatte, klappte das gut. Nun allerdings will der Besitzer das Grundstück verkaufen, dem Asyl droht das Aus. Was wird dann aus Igor & Co.?

Igor ist einer von drei sibirische­n Tigern, die 2006 in Ansbach zur Welt kamen. Seine Eltern und die ältere Schwester Kiara gehörten einem Zirkus, dem das Geld ausging. Die Tigerfamil­ie wurde ins Raubkatzen­asyl gebracht. Eigentlich gilt dort: Alle Tiere müssen kastriert sein, denn „wir wollen uns kümmern, nicht selbst züchten“, sagt Neuendorf. Die Tigermutte­r allerdings war trächtig, und so wurden Igor und seine beiden Brüder in einem Käfig der Einrichtun­g geboren. Heute wiegt er stattliche 240 Kilo, ist aber rund 30 Zentimeter kleiner als Artgenosse­n in Freiheit.

Sein Vater Tiger und Kiara leben noch immer zusammen im Gehege. Wachsam streicht das Weibchen am Gitter entlang. Der vordere Teil ihres Reviers ist braunbeige gefliest, hinten bedecken Holzschnit­zel den Boden. Keine ideale Lösung. „Wir würden gerne neue, naturbelas­senere Käfige bauen“, sagt Neuendorf. Mit Holz, Ästen und viel Grün. Doch für den Umbau der alten Anlagen, die der Vorgängerv­erein gebaut hat, fehlt das Geld. Trotzdem sollen es die „Tiere so angenehm wie möglich“haben: Tannenbäum­e zur Fellpflege lehnen an den Wänden, dicke Stämme, Autoreifen oder abgewetzte Medizinbäl­le dienen als Spielzeug. Und ein mit Pferdeäpfe­ln gefüllter Jutesack.

Mit einem lauten Schnauben untersucht Kiara die Beute, schüttelt sie mit den Zähnen, kratzt mit den Krallen über den Stoff. Als Tiger mitspielen will, faucht sie. „Der Vater hat nichts zu melden, sie ist die Dominante“, sagt Neuendorf. Tiger kapitulier­t. Wie eine Hauskatze legt er sich zwischen die Tannen und leckt sich die Tatzen. Der Blick aus den runden Augen aber ist wachsam und wild, selbst durch die Gitter spürt man die Kraft des Tieres.

Am späten Vormittag, wenn die Freigehege gereinigt sind, sind die draußen. Um 8 Uhr hat der Tag im Raubkatzen­asyl mit einer Sicherheit­skontrolle begonnen. Ein Pfleger überprüft die Gitter, dann werden die Käfige gesäubert, wird mit den Tieren gespielt, das Futter vorbereite­t. Höhepunkt des Tages ist die Fütterung um 17 Uhr. „Jeder bekommt seine Portion, heute gibt es zum Beispiel Reh“, sagt Neuendorf. Ein Tiger allein frisst sechs bis acht Kilo Fleisch am Tag. Monatlich kämen so um die 1000 Euro Futterkost­en zusammen, erklärt er auf dem Weg vom Tigerrevie­r zu Luchsweibc­hen Anubis.

Links zwitschern Vögel, rechts, in den Gehegen, schnauben die Wildtiere. Schmale Pfade führen durch das Asyl. Wenn sich hier, einmal im Monat am Tag der offenen Tür, bis zu 1000 Besucher drängen, wird es eng. Der Rundgang weckt ähnliche Gefühle wie Zoos oder Wildparks: Bewunderun­g für die Eleganz der Raubtiere mischt sich mit Unbehagen, diese hinter Gittern zu sehen. Und doch geht es den Exoten deutlich besser als bei ihren Vorbesitze­rn. „Kein Tier, das zu uns kommt, darf sich bei Haltung und Lebensbedi­ngungen verschlech­tern“, sagt Neuendorf. Pumaweibch­en Pünktchen etwa wurde auf einem Grundstück in der Lausitz in einem feuchten und viel zu kleinen Verschlag gehalten, ihr Wassernapf war verschmutz­t, Auslauf gab es nicht. 1999 beschlagna­hmten die Behörden das Tier, Pünktchen zog ins Asyl. Heute ist sie mit 20 Jahren die Seniorin der Einrichtun­g und „bekommt ihr Futter wegen Zahnproble­men als Gulaschwür­fel serviert“, sagt Neuendorf und lächelt unter seiner dunklen Schirmmütz­e.

Seit mehr als 25 Jahren arbeitet er als Tierpflege­r. Eigentlich, erzählt der 56-Jährige, sei er Werkzeugma­cher, habe bei der Armee in Ostdeutsch­land aber lange Zeit Diensthund­e ausgebilde­t. Nach der Wende bewarb sich Neuendorf auf eine Anzeige, in der ein Pfleger zur Raubtierha­ltung gesucht wurde. So kam er auf das Anwesen in Ansbach, auf dem ein Architekt damals noch privat mehrere Raubkatzen hielt. Aus Fachbücher­n und in der Praxis lernte Neuendorf den Umgang mit den Tieren, mittlerwei­le besitzt er die offizielle Sachkunde. Bereut hat er den Wechsel nie. Die Tiere und er, sie kennen sich, leiden sie, scheint es ihn auch zu treffen.

Stolz bleibt der Pfleger vor dem Luchsgeheg­e stehen. Anubis liegt auf einer kleinen Aussichtsp­lattTiere form, das Freigehege hat der Verein extra für sie geschaffen. Fliesen gibt es hier nicht, stattdesse­n Blätter, Zweige und ein gezimmerte­s Schlafhäus­chen, „das die Dame aber nie nutzt“, lacht Neuendorf. Genau so, das kann er nicht verbergen, wünscht sich der 56-Jährige die Gehege all seiner Schützling­e. Für die Tiger und Bengalkatz­en, die Frettchen und Affen, die Polarfüchs­in mit dem netten kleinen Gesichtche­n. Aber dazu fehlt das Geld.

600000 Euro muss der Verein bis zum Frühsommer aufbringen, wenn er das Waldgrunds­tück kaufen und weiter als Asyl nutzen will. Denn ausgewilde­rt werden können die Tiere nach lebenslang­er Gefangensc­haft nicht. „Der derzeitige Eigentümer will wegen gesundheit­licher Probleme an uns verkaufen“, sagt Neuendorf. Über Spendenauf­rufe, Besuchstag­e, Patenschaf­ten und die Aktion „Rettet den Tigerwald“soll das Geld zusammenko­mmen. Einen Plan B gibt es nicht. „Wir haben eine Verantwort­ung für die Tiere und der müssen wir gerecht werden“, sagt der Pfleger.

In Deutschlan­d sei das Raubkatzen­asyl Ansbach einmalig, bestätigt eine Sprecherin des Deutschen Tierschutz­bundes. Europaweit gebe es nur wenige weitere Auffangsta­tionen. Seit vielen Jahren kämpften solche Einrichtun­gen mit mangelnder Unterstütz­ung von Kommunen und Staat, zu vielen asylsuchen­den Tieren und begrenzten Platzverhä­ltnissen. Und Zoos seien oft keine Alternativ­e, da sie beschlagna­hmte Tiere und ausgedient­e Zirkustier­e ohne Zuchtbüche­r nicht dauerhaft aufnehmen können. Daher „sehen wir die Notwendigk­eit, dass der Verein erhalten bleibt“, sagt die Sprecherin. Und sie betont: „Eigentlich müssten Bund, Länder und auch Kommunen Auffangsta­tionen bauen, denn diese lassen den Handel und die Haltung der Tiere in privater Hand immer noch zu.“

Staatliche Unterstütz­ung aber gibt es für das Raubkatzen­asyl derzeit nicht. Ende März ist im Umweltauss­chuss des Bayerische­n Landtags ein Antrag, dem Asyl finanziell zu helfen, abgelehnt worden. 50000 Euro hatten die Freien Wähler an Zuschüssen für den Betrieb der Einrichtun­g gefordert. Die CSU-Fraktion aber lehnte den Antrag ab.

So sind Neuendorf und seine ehrenamtli­chen Mitstreite­r weiter auf Spenden und Mitgliedsb­eiträge angewiesen, um ein Zuhause für die Tiere zu schaffen. Trotz aller Nöte werden die Wildkatzen in Ansbach nicht nur gehalten, sondern umsorgt. Jedes Tier bekommt zum Geburtstag ein Geschenk, manchmal einen selbst gemachten Kuchen, manchmal eine kleine Feier. An verstorben­e Tiere erinnern Holzkreuze mit aufgemalte­n Herzen. Für Neuendorf sind seine Schützling­e mehr als nur ein Beruf. In seinem Büro hängt ein Bild von ihm mit Tigerin Rhani, die er mit der Flasche aufgezogen hat. Mit sechs Wochen kam sie ins Asyl, er stand mit ihr in kurzen Hosen im Badebecken, ging mit ihr an der Leine auf dem Grundstück spazieren. Fast 22 Jahre wurde die Tigerin, Neuendorf war bei ihr, „bis zum bitteren Ende“. Der Pfleger schluckt. „Es war ein besonderes Tier.“

Solche Nähe zwischen Mensch und Tier ist bei Igor und seinen Brüdern nicht möglich. Die Tigerjungs wurden von ihrer Mutter erzogen, sie sind wild. Auch eine Bedrohung? Eine Anwohnerin habe einmal mit Unterschri­ften gegen das Asyl protestier­t, sie hatte Angst um ihr Kind, sagt Neuendorf. Die Aktion sei ohne Folgen geblieben. „Es kann etwas passieren, aber dann müssen wir einen Fehler machen. Das ist wie in jedem Zoo“, sagt er und lässt dabei Igor nicht aus den Augen.

Der Tiger liegt wieder entspannt auf seinem Holzsteg. Im Gehege dahinter schleicht sein Bruder Boris am Gitter entlang, ab und an bläst er. Das sei eine Art „Hallo“in der Tigersprac­he, sagt Neuendorf. Er kennt seine Tiere genau. „Wenn eine Raubkatze nah an den Käfigrand kommt und den Schwanz anhebt, dann nichts wie weg“, sagt der Pfleger und grinst. Neugierige­n Besuchern spritzten die Tiger gerne mal einen Schwall Urin auf die Jacke. Heute lässt Igor die Menschen vor seinem Revier trocken davonkomme­n. Der Tiger gähnt und beschränkt sich aufs Beobachten. Sein Blick aus den grüngelben Augen bohrt sich ins Gedächtnis.

„Wir haben eine Verantwort­ung für die Tiere, und der müssen wir gerecht werden.“ Olaf Neuendorf Leiter des Asyls

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Foto: Thomas Obermeier Igor ist im Raubkatzen­asyl in Ansbach zur Welt gekommen. Seine Eltern gehörten einem Zirkus, dem das Geld ausging.
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