Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (14)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Nachdem ich mir Toms Erzählung von der Vergangenh­eit seines Chefs angehört hatte, wollte ich gern mehr über diesen eigentümli­chen Menschen erfahren, den Halunken von Angesicht zu Angesicht sehen und mit eigenen Augen in Aktion erleben. Tom hatte nichts dagegen, mich mit ihm bekannt zu machen, und als wir unser zweistündi­ges Mahl im Cosmic Diner beendet hatten, fand ich, ich könnte jetzt gleich mit meinem Neffen zum Laden gehen und mir meinen Wunsch noch an diesem Nachmittag erfüllen. Ich zahlte vorn an der Kasse, ging noch einmal an den Tisch zurück und legte zwanzig Dollar Trinkgeld für Marina hin. Ein absurd übertriebe­ner Betrag – fast doppelt so viel, wie das Essen gekostet hatte –, aber das war mir egal. Meine Angebetete strahlte mich dankbar an, und der Anblick ihrer Beglückung versetzte mich in so prächtige Laune, dass ich mich auf der Stelle entschloss, am Abend Rachel anzurufen und ihr zu erzählen,

dass ihr verloren geglaubter Vetter wieder aufgetauch­t war. Seit ihrem unerfreuli­chen, feindselig­en Besuch Anfang April in meiner Wohnung hatte ich bei meiner Tochter verschisse­n, aber nun, da ich Tom wiedergefu­nden und Marina Gonzalez mir, als ich das Restaurant verließ, lächelnd eine Kusshand zugeworfen hatte, wollte ich mit der Welt wieder ganz ins Reine kommen. Ich hatte Rachel bereits einmal angerufen, um mich für meine groben Worte zu entschuldi­gen, aber da hatte sie nach dreißig Sekunden einfach aufgelegt. Jetzt wollte ich sie noch einmal anrufen, und diesmal würde ich so lange vor ihr zu Kreuze kriechen, bis die Atmosphäre zwischen uns wieder bereinigt war. Die Buchhandlu­ng lag fünfeinhal­b Blocks von dem Restaurant entfernt, und während Tom und ich in der milden Luft dieses Mainachmit­tags die Seventh Avenue hinuntersc­hlenderten, sprachen wir weiter über Harry, den ehemaligen Dunkel von Dunkel Frères, der aus dem dunklen Wald seines früheren Ich geflohen war, um als helle Sonne am Firmament des falschen Spiels wieder aufzutauch­en.

„Ich hatte schon immer eine Schwäche für Gauner“, sagte ich. „Als Freunde sind sie vielleicht nicht die zuverlässi­gsten, aber man stelle sich vor, wie eintönig das Leben ohne sie wäre.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Harry noch ein Gauner ist“, antwortete Tom. „Dafür zeigt er zu viel Reue.“

„Einmal ein Gauner, immer ein Gauner. Die Menschen ändern sich nie.“

„Ansichtssa­che. Ich sage, sie ändern sich doch.“

„Du hast ja auch noch nicht in der Versicheru­ngsbranche gearbeitet. Die Lust am Betrug ist universal, mein Junge, und wer einmal Geschmack daran gefunden hat, ist nicht mehr zu retten. Schnelles Geld - das ist die größte Versuchung von allen. Denk an all die Schlaumeie­r mit ihren getürkten Autounfäll­en und fingierten Personensc­häden, denk an die Geschäftsl­eute, die ihre eigenen Läden und Kaufhäuser abfackeln, die Leute, die ihren eigenen Tod vortäusche­n. Ich habe so etwas dreißig Jahre lang erlebt und bin seiner nie überdrüssi­g geworden. Das große Schauspiel der menschlich­en Unehrlichk­eit. Überall und ständig wird es gegeben, und ob es dir gefällt oder nicht, es ist das fesselndst­e Spektakel von allen.“Tom stieß die Luft aus, es klang wie eine Mischung aus Kichern und schallende­m Gelächter. „Ich liebe es, wenn du solchen Blödsinn erzählst, Nathan. Bis jetzt war mir das gar nicht bewusst, aber es hat mir gefehlt. Es hat mir sehr gefehlt.“

„Du glaubst, ich scherze“, sagte ich, „aber ich sage nur, wie es ist. Die Perlen meiner Weisheit. Ein paar Erkenntnis­se, nachdem ich ein Leben lang in den Gräben der Erfahrung geschuftet habe. Betrüger und Schwindler regieren die Welt. Schurken allenthalb­en. Und weißt du warum?“

„Erzähl’s mir, Meister. Ich bin ganz Ohr.“

„Weil sie hungriger sind als wir. Weil sie wissen, was sie wollen. Weil sie mehr an das Leben glauben als wir.“

„Das denkst du auch bloß, Sokrates. Wenn ich nicht ständig Hunger hätte, würde ich wohl kaum mit so einem Riesenwans­t herumlaufe­n.“

„Du liebst das Leben, Tom, aber du glaubst nicht daran. Und ich auch nicht.“„Ich komme nicht mehr mit.“„Denk an Jakob und Esau. Du weißt doch?“„Ah. Okay. Jetzt kapier ich.“„Eine furchtbare Geschichte, oder?“

„Ja, wirklich furchtbar. Hat mir als Kind ungeheuer zu schaffen gemacht. Damals war ich so ein tugendhaft­er, aufrichtig­er kleiner Mann. Ich habe nie gelogen, nie gestohlen, nie betrogen, nie ein böses Wort gesagt. Und plötzlich dieser Esau, ein täppischer Einfaltspi­nsel, genau wie ich. Von Rechts wegen sollte er den Segen Isaaks empfangen. Aber Jakob trickst ihn aus und ausgerechn­et mit Hilfe seiner Mutter.“

„Schlimmer noch, Gott scheint die Sache gutzuheiße­n. Der unehrliche, hinterhält­ige Jakob wird zum Anführer der Juden, und Esau muss zusehen, wo er bleibt, ein Vergessene­r, ein nichtswürd­iger Niemand.“

„Meine Mutter hat mich immer gelehrt, gut zu sein. ,Gott möchte, dass du gut bist‘, hat sie mir oft erklärt, und da ich noch jung genug war, an Gott zu glauben, habe ich ihr geglaubt. Dann stieß ich in der Bibel auf diese Geschichte und verstand überhaupt nichts mehr. Der Schlechte setzt sich durch, und Gott bestraft ihn nicht. Das kam mir nicht richtig vor. Das kommt mir immer noch nicht richtig vor.“

„Aber natürlich ist es richtig. Jakob war ein heller Bursche, und Esau war ein dummer Tropf. Gutmütig, das schon, aber dumm. Und wenn du einen der beiden zum Führer deines Volkes machen willst, nimmst du den Kämpfer, den Verschlage­nen, den Raffiniert­en, den, der die Kraft hat, sich gegen alle Widerständ­e durchzuset­zen. Du nimmst den Starken und Klugen, nicht den Schwachen und Freundlich­en.“

„Ganz schön brutal, Nathan. Wenn du mit deiner Argumentat­ion noch einen Schritt weiter gehst, erzählst du mir als Nächstes, dass man Stalin als großen Mann verehren sollte.“

„Stalin war ein Verbrecher, ein psychotisc­her Mörder. Ich rede vom Überlebens­instinkt, Tom, dem Willen zu leben. Ein gerissener Schurke ist mir jederzeit lieber als ein frommer Trottel. Er mag sich nicht immer an die Regeln halten, aber er hat Schwung. Und solange noch jemand Schwung hat, gibt es Hoffnung für die Welt.“

In Natura

Als wir noch einen Block vom Laden entfernt waren, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Floras Besuch in Brooklyn nur bedeuten konnte, dass Harry noch Kontakt zu seiner Exfrau und seiner Tochter hatte – ein klarer Verstoß gegen den von ihm unterschri­ebenen Vertrag mit Dombrowski. Warum aber hatte der Alte sich dann nicht auf ihn gestürzt und das Haus in der Seventh Avenue zurückverl­angt?

»15. Fortsetzun­g folgt

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