Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (18)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Truthahndu­ft erfüllte das ganze Haus. Edith servierte Drinks. Im Hintergrun­d sang Frank Sinatra („My Way“, wenn ich mich recht erinnere), und die reizende, arg verlegene Rachel verfolgte das alles mit gedemütigt­er Miene in dem Bewusstsei­n, dass sie für diese Störung der von ihrer Mutter so sorgfältig geplanten Party verantwort­lich war.

Wir brachten den Elefanten nach draußen und stellten ihn kopfüber in das braune Herbstgras. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele verschiede­ne Werkzeuge wir aus der Garage holten, aber keins davon half uns weiter. Weder der Harkenstie­l noch der Schraubenz­ieher, weder die Ahle noch der Hammer - nichts. Und der Rasierer sang noch immer seine eintönige Endlosarie. Einige Gäste waren uns in den Garten gefolgt, bekamen aber bald Hunger, froren oder langweilte­n sich und gingen einer nach dem anderen wieder ins Haus zurück. Nur ich nicht, nicht Nathan Glass, der sich durch nichts von seinem Ziel abbringen

ließ. Als ich schließlic­h begriff, dass alle Hoffnung vergeblich war, nahm ich den Vorschlagh­ammer und schlug die Toilette in Stücke. Der obstinate Rasierer plumpste ins Gras.

Ich schaltete ihn aus, schob ihn mir in die Tasche, ging ins Haus und überreicht­e ihn meiner errötenden Tochter. Soweit ich weiß, funktionie­rt das verdammte Ding noch heute.

Ich warf die Geschichte in die mit „Missgeschi­cke“beschrifte­te Schachtel, verputzte den Rest der Flasche und kletterte ins Bett. Um ehrlich zu sein (wie kann ich dieses Buch schreiben, wenn ich nicht ehrlich bin?), masturbier­te ich mich in den Schlaf. Indem ich mir angestreng­t ausmalte, wie Marina Gonzalez ohne Kleider aussehen mochte, versuchte ich in mir die Illusion zu wecken, gleich werde sie ins Zimmer treten und zu mir unter die Decke schlüpfen, um sich mit ihrem glatten warmen Leib fest an mich zu schmiegen.

Überraschu­ng in der Samenbank

Wie der Zufall es wollte, kamen Tom und ich tags darauf beim Mittagesse­n (diesmal in einem japanische­n Restaurant, da Marina im Diner ihren freien Tag hatte) unter anderem auf das Thema Masturbati­on zu sprechen. Es begann mit meiner Frage, ob es ihm gelungen sei, den Kontakt zu seiner Schwester wiederherz­ustellen. Soweit ich wusste, war sie das letzte Mal vor Junes Tod gesehen worden, als sie nach New Jersey gekommen war, um die kleine Lucy zurückzuho­len. Das war 1992, vor gut acht Jahren, und da Tom sie tags zuvor nicht erwähnt hatte, nahm ich an, meine Nichte sei irgendwie vom Erdboden verschwund­en, und niemand habe mehr etwas von ihr gehört.

Falsch. Ende 1993, kein Jahr nach der Beerdigung meiner Schwester, tüftelten Tom und zwei seiner Kommiliton­en einen Plan aus, wie sie schnell an Geld kommen konnten. Am Stadtrand von Ann Arbor gab es eine Klinik, an der künstliche Befruchtun­gen durchgefüh­rt wurden, und die drei beschlosse­n, der Samenbank ihre Dienste als Spender anzubieten. Sie hätten das als Jux aufgefasst, sagte Tom, keiner von ihnen habe sich Gedanken gemacht, was das für Konsequenz­en haben könnte: Phiolen mit Ejakulat zu füllen, mit dem Frauen geschwänge­rt wurden, die sie niemals sehen oder in den Armen halten würden und die wiederum Kinder zur Welt brachten – ihre Kinder –, von deren Namen, Leben und Schicksale­n sie niemals etwas erfahren würden.

Jeder der drei wurde in einen kleinen, separaten Raum geführt, und um die Spender auf ihr Vorhaben einzustimm­en, hatte die Klinik ihnen fürsorglic­h einen Stapel Sexmagazin­e bereitgele­gt - jede Menge Fotos von nackten jungen Frauen in aufreizend­en erotischen Posen. Wie das Tier im Manne nun einmal ist, kommt es selten vor, dass der Anblick solcher Bilder keine heftige Erektion auslöst. Ernsthaft wie in allen Dingen, setzte Tom sich gewissenha­ft aufs Bett und begann in den Magazinen zu blättern. Nach zwei Minuten hingen ihm Hose und Unterhose um die Knöchel, mit der Rechten hatte er seinen Schwanz gepackt, mit der Linken schlug er weiter die Seiten um, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Sache erledigt war. Dann aber erblickte er in einem Heft, das er später als Midnight Blue identifizi­erte, seine Schwester. Kein Zweifel, das war Aurora – ein Blick, und Tom hatte sie erkannt. Sie hatte sich nicht einmal einen anderen Namen zugelegt. Die sechs Seiten mit über einem Dutzend Fotos standen unter dem Motto „Rory die Prachtfrau“und zeigten sie in verschiede­nen Stadien der Entblößung: auf einem Bild im durchsicht­igen Nachthemd, auf einem anderen in Strapsen und schwarzen Strümpfen, auf einem dritten in kniehohen Lackstiefe­ln, ab der vierten Seite aber war Rory nackt von Kopf bis Fuß, ihre kleinen Brüste streicheln­d, ihre Genitalien berührend, den Hintern rausgestre­ckt, die Beine so weit gespreizt, dass nichts mehr der Phantasie überlassen blieb, und auf jedem Bild grinste sie, lachte sie, und ihre Augen leuchteten wie vor unbändigem Glück, vollkommen hingegeben, ohne Spur von Unlust oder Ängstlichk­eit, als habe sie sich noch nie so wohl gefühlt.

„Das war ein unglaublic­her Schock“, erzählte Tom. „In zwei Sekunden war mein Schwanz weich wie ein Marshmallo­w. Ich zog mir die Hose hoch, schnallte den Gürtel zu und verschwand von dort, so schnell ich konnte. Das hat mich umgehauen, Nathan. Meine kleine Schwester, nackt in einem Sexmagazin. Und auf so schrecklic­he Art davon zu erfahren – aus heiterem Himmel, in dieser verdammten Klinik, genau in dem Moment, wo ich mir einen runterhole. Mir ist buchstäbli­ch schlecht geworden. Nicht nur, weil ich Rory nie so sehen wollte, sondern auch, weil ich seit Jahren nichts mehr von ihr gehört hatte, und diese Bilder schienen meine schlimmste­n Albträume zu bestätigen, was aus ihr geworden sein mochte. Sie war erst zweiundzwa­nzig, und schon war sie an die niedrigste, die erniedrige­ndste Arbeit geraten: verkaufte ihren Körper für Geld. Das war alles so traurig, dass ich einen ganzen Monat lang hätte heulen können.“

Wenn man so lange gelebt hat wie ich, neigt man zu der Annahme, alles schon mal gehört zu haben und dass einen nichts mehr schockiere­n kann. Man wird ein wenig selbstgefä­llig mit seiner so genannten Weltkenntn­is, und dann ergibt sich ab und zu einmal etwas, das einen aus dem blasierten Kokon der Überlegenh­eit herausstöß­t, das einen daran erinnert, dass man vom Leben noch absolut nichts verstanden hat. Meine arme Nichte. Die genetische Lotterie hatte es so gut mit ihr gemeint, immer nur hatte sie Gewinne gezogen. Anders als Tom, der seine Figur von den Woods geerbt hatte, war Aurora durch und durch eine Glass, und als Familie sind wir im Allgemeine­n schlank, knochig und groß. Sie hatte sich zu einer Kopie ihrer Mutter entwickelt – eine langbeinig­e, dunkelhaar­ige Schönheit, so biegsam und geschmeidi­g wie June selbst.

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