Augsburger Allgemeine (Land West)

Das Publikum hat es in der Hand

Theater Schuldig oder nicht: Meist entscheide­n beim Gerichtsst­ück „Terror“die Zuschauer für den Angeklagte­n. In Ingolstadt auch?

- VON FRIEDRICH KRAFT

Ingolstadt

Darf ein entführtes Verkehrsfl­ugzeug abgeschoss­en werden, um seinen geplanten Absturz über einem Fußballsta­dion zu verhindern? Dürfen also z. B. 160 Airbus-Passagiere geopfert werden, um 70000 Sportfans zu retten? Das Bundesverf­assungsger­icht verneinte 2006 diese Frage und erklärte den betreffend­en Teil des noch unter der Regierung Schröder beschlosse­nen Luftsicher­heitsgeset­zes für grundgeset­zwidrig. Der Tenor des ethisch bedeutsame­n Urteils: Menschenle­ben sind nicht gegeneinan­der aufzurechn­en.

Der instinktsi­chere Bestseller­Autor und frühere Strafverte­idiger Ferdinand von Schirach nahm sich des brisanten Stoffs an. Im Oktober 2015 wurde sein Stück „Terror“uraufgefüh­rt und seither trotz erhebliche­r Schwächen an erstaunlic­h vielen Bühnen nachgespie­lt. Es schildert einen fiktiven Strafproze­ss gegen Lars Koch, Major der Luftwaffe. Er hat entgegen geltendem Recht ein gekapertes Flugzeug abgeschoss­en und damit entschiede­n, dass die Lufthansa-Passagiere für die Stadionbes­ucher sterben müssen. Der Clou am Schauspiel: Die Zuschauer werden in die Rolle der Schöffen versetzt und sollen am Ende über schuldig oder unschuldig abstimmen.

Für öffentlich­es Aufsehen sorgte im vergangene­n Oktober die Fernsehver­sion des Schirach-Stückes in der ARD. Vor allem Juristen waren darüber empört, dass der Autor aus Effekthasc­herei wider besseres Wissen in seinem Text einfachste rechtliche Grundsätze ignoriere und damit die Zuschauer in die Irre führe. Beispiele: Die Anklage gegen den Major könne nie auf Mord, sondern nur auf Totschlag lauten; ein Schuldspru­ch sage noch nichts über das Strafmaß aus.

Am Stadttheat­er Ingolstadt zeigt man sich von solchen Einwänden unbeeindru­ckt und spult den Text, so wie er ist, im sterilen Sitzungssa­al des Landgerich­ts ab, als ginge es um einen drögen Alltagsfal­l und nicht um einen Jahrhunder­t-Prozess. Victoria Voss agiert als Vorsitzend­e Richterin mit kühlem Charme. Péter Polgár, der Staatsanwa­lt, lässt im Plädoyer immerhin Leidenscha­ft spüren, während Enrico Spohn als Verteidige­r auf Routine macht. Der Angeklagte (Marc Schöttner) zeigt wenig Regung, richtet seinen Blick meistens starr zum Publikum, also zu den ca. 80 „Schöffen“, mehr passen nicht auf die Zuhörerbän­ke im Landgerich­t.

Erstaunlic­h bei der Premiere das Urteil der vermeintli­chen Laienricht­er: eine eindeutige Mehrheit für „schuldig“. Dies ging gegen den Trend an den anderen Bühnen und bei der Fernsehaus­strahlung. Es darf gemutmaßt werden, dass bei der Entscheidu­ng Emotionen eine Rolle spielen. Wo der Kampfpilot als sympathisc­her Typ gezeigt wurde, neigte das Publikum stets zum Urteil „unschuldig“.

„Terror“ist ein ebenso erfolgreic­hes wie schwaches Theaterstü­ck. Annalena Maas, Absolventi­n der Theateraka­demie August Everding, hat es in Ingolstadt als Diplomarbe­it inszeniert und dabei vernünftig­erweise auf Bemühungen verzichtet, die dramaturgi­sche Schlichthe­it der Vorlage zu kaschieren. O Alle weiteren Vorstellun­gen sind ausverkauf­t.

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