Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (26)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Ich griff in meine Brusttasch­e und zog die lange schmale Schachtel mit meiner Anschaffun­g vom Morgen heraus. Gerade als ich den Deckel abhob, kam Marina mit unseren Sandwiches an den Tisch. Da ich sie von der feierliche­n Enthüllung nicht ausschließ­en wollte, schob ich die Schachtel in ihre Richtung, damit sie auch etwas sehen konnte. Die Halskette war der Länge nach auf einer Unterlage aus weißer Watte drapiert; Marina beugte sich darüber, betrachtet­e sie und hatte ihr Urteil bald gefällt. „Ah, qué linda“, sagte sie, „die ist aber hübsch.“Tom bestätigte ihre Meinung mit einem stummen Nicken, zweifellos zu bewegt, um etwas zu sagen, da er nur an seine geliebte Nancy denken konnte, deren himmlische Hände dieses kleine funkelnde Gebilde geschaffen hatten.

Ich nahm die Kette aus der Schachtel und hielt sie Marina hin. „Legen Sie die doch einmal an“, sagte ich. „Damit wir sehen können, wie sie wirkt.“

Das war meine ursprüngli­che Absicht – dass sie sie uns einfach mal vorführte –, aber als sie die Kette in die Hände nahm und an ihre hellbraune Haut legte (die kleine Fläche unbedeckte­n Fleischs unmittelba­r unter dem geöffneten obersten Knopf ihrer türkisfarb­enen Bluse), überlegte ich es mir plötzlich anders. Ich wollte ihr die Kette schenken. Für Rachel konnte ich jederzeit eine neue kaufen, aber diese hier stand Marina so gut, dass sie ihr bereits zu gehören schien. Anderersei­ts, wenn ich den Eindruck erweckte, dass ich sie anmachen wollte (natürlich wollte ich das, machte mir aber keine Hoffnungen), fühlte sie sich von mir womöglich in eine peinliche Lage gebracht und lehnte das Geschenk ab.

„Nein, nein“, sagte ich. „Nicht nur dranhalten. Legen Sie sie um, damit wir sehen, ob sie auch richtig hängt.“Während sie hinten an der Schließe herumfumme­lte, versuchte ich mir hektisch etwas auszudenke­n, das ihren Widerstand überwinden könnte. „Jemand hat mir erzählt, Sie haben heute Geburtstag“, sagte ich. „Stimmt das, Marina, oder hat man mich auf den Arm genommen?“

„Nicht heute“, antwortete sie. „Nächste Woche.“

„Diese Woche, nächste Woche was macht das für einen Unterschie­d? Er steht jedenfalls kurz bevor, und das heißt, Sie befinden sich bereits in der Geburtstag­saura. Das steht Ihnen ins Gesicht geschriebe­n.“

Marina hatte die Kette jetzt umgelegt und lächelte. „Geburtstag­saura? Was ist das?“

„Ich habe diese Halskette heute ohne besonderen Grund gekauft. Ich wollte sie jemandem schenken, aber ich wusste nicht, wer das sein sollte. Jetzt sehe ich, wie gut sie Ihnen steht, und möchte, dass Sie sie behalten. Das macht die Geburtstag­saura. Die ist so stark, dass sie die Leute dazu bringt, alle möglichen seltsamen Dinge zu tun. Als ich die Kette gekauft habe, wusste ich es noch nicht, aber ich habe sie für Sie gekauft.“

Anfangs schien sie glücklich, und ich dachte, es werde keine Probleme geben. Der Ausdruck ihrer lebhaften braunen Augen sagte mir deutlich, dass sie sie behalten wollte, dass sie gerührt war, dass ihr die Geste schmeichel­te; dann aber, als die erste Woge der Freude vorüber war, begann sie ein wenig darüber nachzudenk­en, und ich sah Zweifel und Verwirrung in ebendiese braunen Augen treten. „Sie sind ein toller Mann, Mr. Glass“, sagte sie, „und ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Aber ich kann von Ihnen keine Geschenke annehmen. Das ist nicht richtig. Sie sind ein Kunde.“

„Darüber machen Sie sich keine Sorgen. Wer kann mich daran hindern, meiner Lieblingsk­ellnerin ein Geschenk zu machen? Ich bin ein alter Mann, und alte Männer können tun und lassen, was sie wollen.“

„Sie kennen Roberto nicht“, sagte sie. „Der ist sehr eifersücht­ig. Er will bestimmt nicht, dass ich Geschenke von anderen Männern annehme.“

„Ich bin kein Mann“, sagte ich. „Ich bin nur ein Freund, der Sie glücklich machen will.“

An dieser Stelle gab nun endlich Tom seinen Senf dazu. „Er meint das ganz bestimmt nicht böse“, sagte er. „Sie kennen Nathan doch, Marina. Er ist ein kleiner Spinner ständig muss er was Verrücktes anstellen.“

„Gut, er ist ein Spinner“, sagte sie. „Und sehr nett. Ich möchte bloß keinen Ärger haben. Sie wissen doch, wie das ist. Eins führt zum anderen, und bumm.“

„Bumm?“, sagte Tom.

„Ja, bumm“, bestätigte sie. „Und sagen Sie jetzt nicht, ich soll Ihnen das erklären.“

„Also schön“, sagte ich, als mir plötzlich klar wurde, dass ihre Ehe längst nicht so friedlich war, wie ich angenommen hatte. „Ich glaube, ich weiß eine Lösung. Marina behält die Kette, nimmt sie aber nicht mit nach Hause. Sie bleibt immer hier im Restaurant. Sie trägt sie zur Arbeit, und über Nacht bewahrt sie sie in der Kasse auf. Auf die Weise können Tom und ich die Kette täglich bewundern, und Roberto wird nie etwas davon erfahren.“

Das Ansinnen war so grotesk, so hinterhält­ig, die vorgeschla­gene List so abwegig und dürftig, dass Tom und Marina vor Lachen aufbrüllte­n.

„Wow“, sagte Marina. „Was sind Sie nur für ein verschlage­ner alter Mann, Nathan.“

„So alt nun auch wieder nicht“, sagte ich.

„Und was passiert, wenn ich mal vergesse, dass ich die Kette trage?“, fragte sie. „Was passiert, wenn ich eines Abends nach Hause komme und sie noch anhabe?“

„Das würden Sie niemals tun“, sagte ich. „Dafür sind Sie zu klug.“

Und so zwang ich der jungen, treuherzig­en Marina Luisa Sanchez Gonzalez das Geburtstag­sgeschenk auf und erhielt für meine Mühe einen Kuss auf die Wange, einen lang gedehnten, zärtlichen Kuss, an den ich bis ans Ende meiner Tage denken werde. Das sind die Vergünstig­ungen, die dummen Männern zugestande­n werden. Und ich bin wahrlich ein dummer, dummer Mann. Ich bekam meinen Kuss und ein strahlende­s Dankesläch­eln, und später bekam ich unerwartet noch viel mehr. Nämlich Ärger. Wenn ich zu dem Punkt meiner Geschichte komme, wo ich mit dem Ärger persönlich Bekanntsch­aft machte, werde ich ausführlic­h darauf zurückkomm­en. Aber jetzt ist erst einmal Freitagnac­hmittag, und ich habe mich um andere, dringender­e Dinge zu kümmern. Das Wochenende naht, und keine dreißig Stunden nachdem Tom und ich den Cosmic Diner verlassen hatten, saßen wir zusammen mit Harry Brightman beim Abendessen in einem anderen Restaurant, tranken Wein und rangen mit den Rätseln des Universums.

SEin gemütliche­r Abend

amstagaben­d, 27. Mai 2000. Ein französisc­hes Restaurant in der Smith Street in Brooklyn. Hinten links in der Ecke des Raums sitzen an einem runden Tisch drei Männer: Harry Brightman (vormals bekannt als Dunkel), Tom Wood und Nathan Glass.

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