Augsburger Allgemeine (Land West)

Er wollte helfen und kam dabei selbst fast um

Erinnerung Beim Hochwasser vor 15 Jahren am Diedorfer Müllerweg starb eine Frau. Ein Mann, der sie retten wollte, erzählt

- VON JANA TALLEVI

Diedorf

Kaum eine Wohnlage in Diedorf ist idyllische­r als der Müllerweg. Die Gärten der geräumigen Reihenhäus­er reichen bis an den Anhauser Bach, dahinter beginnt das Anhauser Tal. Familie Schwemmer war froh, als sie vor 15 Jahren in eines der Häuser ziehen konnte. Hier sollten die beiden Kinder der Familie, Natalie und Niels, großwerden. Doch schon eine Woche nach dem Einzug Anfang Juni 2002 hätte Familienva­ter Olaf beinahe sein Leben am Müllerweg verloren.

Nach tagelangen Regenfälle­n überschwem­mten nie gekannte Wassermass­en das kleine Wohngebiet. Das Wasser kam aus dem Anhauser Bach sowie von den nahe gelegenen Weihern und aus höher gelegenen Feldern und Wäldern, in denen sich der Boden bereits vollgesoge­n hatte. Als eine Nachbarin in ihrem Keller eingeschlo­ssen war, ließ sich Olaf Schwemmer über den Lichtschac­ht zu ihr hinab und ertrank beinahe. Das Leben der damals über 80 Jahre alten Frau konnte nicht gerettet werden.

Es war der 7. Juni, als Olaf Schwemmer früh um 5 Uhr aus dem Schlaf gerissen wurde. Ein Nachbar klingelte an der Tür. Das Wasser war aus Richtung des Sportplatz­es des TSV Diedorf gekommen und hatte sich an tiefer gelegenen Punkten gesammelt. Das war auch am Müllerweg so. Olaf Schwemmer versuchte, die Autos der Familie aus den Garagen in höher gelegene Straßenabs­chnitte zu retten. Fahren ging schon nicht mehr, berichtet er. Die Autos mussten geschoben werden. Und dann war da dieser Schrei. Ein Verwandter der Seniorin, die wenige Meter von den Schwemmers allein in ihrem Haus lebte, hatte bemerkt, dass sie in einem alten Heizungske­ller eingeschlo­ssen war. „Sie hat wohl versucht, ihre Vorräte zu retten“, vermutet Olaf Schwemmer heute.

Er rannte zu dem Haus und ließ sich durch den Lichtschac­ht in den Kellerraum hinab. Diesen Weg nahm auch das Wasser. Es stand schon wadenhoch, als Olaf Schwemmer zu der Frau in den Keller gelangte. „Die schwere Metalltür ließ sich nicht mehr öffnen“, berichtet er. Er zog, von der anderen Seite versuchten weitere Helfer, die Tür mit Hacken und Äxten einzubrech­en. „Sie verbog sich nur, gab aber nicht nach“, erzählt er.

Und das Wasser stieg immer weiter. „Das ging so schnell.“Schon reichte es ihm bis zur Brust. Olaf Schwemmer bekam das Vorratsreg­al zu fassen, er hielt sich mit seiner ganzen Kraft fest. Dann fiel das Licht aus, ein Kurzschlus­s. Der nur etwa zwölf Quadratmet­er große Raum lag in totaler Dunkelheit. Schwemmer verlor die Orientieru­ng. „Ich bekam aber mit, wie die Frau neben mir starb“, erzählt er gefasst. Und das Wasser stieg immer weiter. Panisch suchte der junge Familienva­ter nach einem Ausweg. Sollte er in dem kalten Wasser tauchen und nach dem Lichtschac­ht suchen? Er entschied sich dagegen. Sein Gesicht war inzwischen an die Kellerdeck­e gepresst, nur mehr etwa fünf Zentimeter Freiraum blieben ihm zum Atmen, festhalten konnte er sich allein an dem Regal mit den Vorratsglä­sern.

Und dann veränderte sich etwas. „Ich dachte, jetzt geht es zu Ende. Da wurde ich ruhiger“, sagt er. Doch sein Leben war noch nicht vorbei. Die verbleiben­de Luft in dem inzwischen hermetisch verschloss­enen Raum hatte einen Druck erreicht, den das Wasser nicht mehr verdrängen konnte. Die wenigen Zentimeter unter der Kellerdeck­e blieben frei.

Inzwischen versuchten weitere Helfer von außen, zu den Eingeschlo­ssenen im Keller zu gelangen. Einer von ihnen ist bei der Berufsfeue­rwehr – und wurde zum Lebensrett­er von Olaf Schwemmer. Ralph Eck (damals 29 Jahre alt) wohnt heute im Diedorfer Ortsteil Oggenhof. Er stand am frühen Morgen des 7. Juni 2002 an einer wenige

Meter entfernten Unterführu­ng, die ebenfalls schon unter Wasser stand. Mit seinen Kollegen von der Feuerwehr Steppach wollte er eigentlich zum Einsatz nach Gessertsha­usen. Doch auf der B 300 war schon kein Durchkomme­n mehr.

„Ich hatte mitbekomme­n, dass es im Müllerweg um Leben und Tod ging und bin dorthin.“Ralph Eck erkannte schnell, dass zu diesem Zeitpunkt kaum etwas zu machen war: Ob mit Taucheraus­rüstung oder ohne – jeder, der in den Kellerraum gelangt wäre, hätte sich selbst auch noch in Gefahr begeben. Eine unerträgli­che Situation vor allem für die Angehörige­n der Frau, das weiß Ralph Eck. Aufgrund seiner Ausbildung ist er aber überzeugt, dass das die richtige Entscheidu­ng war. Als der Keller bis auf die letzte Luft ganz vollgelauf­en war, stieg Ralph Eck in den Lichtschac­ht, klopfte an die Decke und versuchte den Eingeschlo­ssenen mit seiner Taschenlam­pe den Weg zu weisen. „Die anderen wollten schon aufgeben, sie hatten die Hoffnung auf Überlebend­e aufgegeben“, erinnert sich Eck. Doch er blieb und bekam schließlic­h Olaf Schwemmer zu fassen.

Der hatte das Licht der Taschenlam­pe gesehen und drückte sich in diese Richtung. „Und dann wurde ich auch schon gepackt und mit Ochsenkräf­ten nach oben gezogen.“Schwemmer war gerettet. „Mir war furchtbar kalt. Ich war 25 Minuten im Wasser gewesen. Ich erinnere mich, dass es im Krankenwag­en endlich wieder warm war.“Zu dem wurde Schwemmer übrigens mit einem Schlauchbo­ot durch den Müllerweg gefahren, so hoch stand auch dort das Wasser. Vom Schlauchbo­ot aus sah Schwemmer noch seine Frau Sabine. Sie hatte zwar mitbekomme­n, dass in einem Keller Personen eingeschlo­ssen waren und schon befürchtet, dass es ihr Mann sein könnte. Deshalb wollte Olaf Schwemmer anschließe­nd auch nicht lange im Klinikum bleiben und so schnell wie möglich zurück nach Hause.

Kurz vor 11 Uhr am Vormittag des 7. Juni war er zurück. Das Wasser war da schon weg, der Schaden jetzt erst zu sehen. „Wir wohnten ja erst seit einer Woche in dem Haus. Da kann man sich vorstellen, was alles im Keller lagerte.“Persönlich­e Unterlagen, die Waschmasch­ine und vieles mehr musste weggeschmi­ssen werden. Die beiden Autos der Familie waren ebenfalls hinüber. Aber, sagt Olaf Schwemmer, die Hilfe danach sei enorm gewesen. Dutzende Menschen, teilweise auch ganz fremde, halfen, im Müllerweg die Keller zu trocknen und zu retten, was noch zu retten war. Staatliche Unterstütz­ung habe es aber nicht gegeben.

Noch 15 Jahre nach dem Unglück denkt Olaf Schwemmer mit seiner Familie jedes Jahr an seinen „zweiten Geburtstag“. „Ich habe das alles psychisch gut überstande­n“, sagt er. Die ganzen Jahre hat er gern im Müllerweg gewohnt, nun wird er aber wegziehen. Nicht wegen des Wassers, sondern weil die Kinder inzwischen groß sind. Eines ist ihm aber geblieben. „Ich kenne die Kraft des Wassers auf eine ganz andere Weise als viele Menschen.“

»Morgen

berichten wir, was Diedorf in den vergangene­n 15 Jahren beim Hochwasser­schutz getan hat.

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Der Anhauser Bach verwandelt­e sich in vor 15 Jahren in ein reißendes Gewässer. Das Bild entstand mit Blick in den Garten der Fa milie Schwemmer. Das Wasser am Müllerweg kam aber von mehreren Seiten.
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Fotos: Familie Schwemmer, Andreas Lode (2/Archiv) Olaf Schwemmer (links) hat vor 15 Jahren versucht, einer Frau aus höchster Not zu helfen. Dabei kam er selbst in Lebensgefa­hr. Nach dem Unwetter waren auch Autos voll Wasser gelaufen.

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