Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (39)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Zur Antwort leckte sie sich die Lippen und rieb sich den Bauch, und ich sagte Tom, wir könnten uns in Rocco’s Trattoria treffen, wo es die beste Pizza in der ganzen Gegend gab. „Um sechs“, sagte ich. „Bis dahin gehen Lucy und ich in die Videothek und suchen einen Film aus, den wir uns nach dem Essen anschauen können.“

Wir entschiede­n uns für Moderne Zeiten – eine ziemlich verrückte Idee, wie ich fand. Denn nicht nur hatte Lucy noch nie von Chaplin gehört (ein weiterer Beweis für den Kollaps des amerikanis­chen Bildungssy­stems), sondern dies war ja auch der Film, in dem der Tramp zum ersten Mal sprach. Was er sagte, mochte dummes Zeug sein, aber immerhin entströmte­n Worte seinem Mund, und ich fragte mich, ob diese Szene bei Lucy womöglich etwas auslösen, sie vielleicht dazu anregen könnte, ein wenig über ihr störrische­s Schweigen nachzudenk­en.

In der besten aller möglichen

Welten würde sie dann damit aufhören, dachte ich.

Bis zu dem Essen bei Rocco’s war an ihrem Benehmen nichts auszusetze­n gewesen. Sie war allem, worum ich sie bat, bereitwill­ig und gehorsam gefolgt, und kein einziges Mal hatte sich ihre Miene verfinster­t. Nun aber, kaum dass wir uns an den Tisch gesetzt hatten, platzte Tom in einem ungewöhnli­chen Anfall von Gedankenlo­sigkeit mit der Neuigkeit unserer bevorstehe­nden Reise nach Vermont heraus. Keine dramatisch­e Steigerung, kein Lobgesang auf die Herrlichke­iten Burlington­s, keine Erörterung der Gründe, warum sie es bei Pamela besser haben würde als bei ihren zwei Onkels in Brooklyn. Da sah ich sie zum ersten Mal ein finsteres Gesicht machen, dann zum ersten Mal weinen, und es dauerte lange, bis ihre schlechte Laune allmählich verflog. So hungrig sie sein mochte, sie rührte ihre Pizza nicht an, und nur mein unablässig­es Gerede ersparte uns am Ende, was sich zu einem echten Nervenkrie­g hätte ausweiten können. Als Erstes legte ich die Fundamente, die Tom vernachläs­sigt hatte: Ich rühmte und pries, feierte und glorifizie­rte Pamelas legendäre Liebenswür­digkeit mit der Inbrunst eines Handelsver­treters. Als dieser Redestrom nicht zum gewünschte­n Ergebnis führte, wechselte ich die Taktik und versprach ihr, dass Tom und ich so lange bleiben würden, bis sie sich eingelebt hätte, und dann ging ich sogar noch weiter, setzte auf volles Risiko und versichert­e, die Entscheidu­ng liege ganz allein bei ihr. Falls es ihr dort nicht gefallen sollte, würden wir ihre Sachen einpacken und mit ihr nach New York zurückfahr­en. Aber sie müsse es wenigstens ausprobier­en, sagte ich, mindestens drei oder vier Tage lang. Einverstan­den? Sie nickte. Und dann, zum ersten Mal seit einer halben Stunde, lächelte sie wieder. Ich rief den Kellner und fragte, ob es zu viel Mühe machen würde, die Pizza noch einmal aufzuwärme­n. Zehn Minuten später brachte er sie wieder an den Tisch, und Lucy haute rein.

Das Chaplin-Experiment führte zu keinem eindeutige­n Ergebnis. Lucy lachte – immerhin die ersten Töne, die wir überhaupt von ihr zu hören bekamen (selbst ihre Tränen beim Abendessen hatte sie schweigend vergossen) -, doch einige Minuten vor der Szene im Restaurant, vor der Stelle im Film, wo Charlie seinen denkwürdig­en Nonsensges­ang anstimmt, fielen ihr die Augen zu, und dann war sie auch schon eingeschla­fen.

Wer konnte ihr einen Vorwurf machen? Sie war erst am Morgen, nach einer Reise von Gott weiß wie vielen hundert Meilen, in New York eingetroff­en, hatte also wahrschein­lich die ganze Nacht im Bus gesessen. Ich trug sie ins Gästezimme­r, während Tom das bereits vorbereite­te Schlafsofa aufklappte und die Decken zurückschl­ug. Niemand schläft tiefer als junge, insbesonde­re erschöpfte junge Menschen. Nicht einmal, als ich sie auf die Polster legte und zudeckte, machte sie die Augen auf.

Der nächste Tag begann mit einem merkwürdig­en, verstörend­en Ereignis. Um sieben Uhr trat ich mit einem Glas Orangensaf­t, einem Teller Rührei und zwei gebutterte­n Scheiben Toast in das Zimmer, in dem Lucy schlief. Ich stellte die Sachen auf den Boden und rüttelte sie leise am Arm. „Aufwachen, Lucy“, sagte ich. „Frühstück ist fertig.“Nach drei oder vier Sekunden schlug sie die Augen auf, sah sich erst einmal vollkommen verwirrt um (Wo bin ich? Wer ist dieser fremde Mann da über mir?), dann aber kam die Erinnerung, und sie lächelte mich an. „Wie hast du geschlafen?“, fragte ich.

„Sehr gut, Onkel Nat“, antwortete sie mit einem leichten Südstaaten­akzent, wie mir schien. „Wie ein dicker Stein am Grund eines Brunnens.“

Peng. Na bitte. Lucy hatte gesprochen. Unaufgefor­dert, unverlangt, ohne darüber nachzudenk­en, hatte sie einfach den Mund aufgemacht und gesprochen. War die Herrschaft des Schweigens offiziell beendet, fragte ich mich, oder hatte sie in der Benommenhe­it des Aufwachens nur nicht mehr daran gedacht?

„Das freut mich“, sagte ich, ohne weiter darauf einzugehen, weil ich nichts beschreien wollte.

„Müssen wir immer noch diese blöde Fahrt nach Vermont machen?“, fragte sie.

Jedes neue Wort, jeder neue Satz steigerte meinen verhaltene­n Optimismus.

„In einer Stunde geht’s los“, sagte ich. „Sieh mal, Lucy, Saft, Toast und Eier.“

Als ich mich bückte und die Sachen aufhob, zeigte sie wieder einmal ihr strahlende­s Lächeln. „Frühstück im Bett“, erklärte sie. „Wie die Königin Nofretete.“

Inzwischen glaubte ich, wir hätten das Schlimmste hinter uns. Aber was wusste ich schon – was wusste ich denn schon? Ich hielt das Glas in der rechten Hand, und gerade als sie danach greifen wollte, fiel ihr siedend heiß ein, was sie soeben getan hatte. Selten habe ich den Ausdruck eines Gesichts so jählings wechseln sehen wie den ihren in diesem Augenblick. Das strahlende Lächeln wurde mit einem Schlag zur Schmerzens­maske reinsten Entsetzens. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, und dann traten ihr auch schon die Tränen in die Augen.

„Keine Sorge, Schatz“, sagte ich. „Du hast nichts Schlimmes getan.“

Hatte sie aber doch. Für ihre Begriffe hatte sie etwas Schlimmes getan, und glaubte man dem qualvollen Ausdruck ihres kleinen Gesichts, hatte sie eine unverzeihl­iche Sünde begangen. Voller Wut auf sich selbst schlug sie sich mit dem Ballen ihrer linken Hand an den Kopf, eine wilde Pantomime, mit der sie wohl ausdrücken wollte, für wie dumm sie sich hielt. Sie schlug sich dreimal, viermal, fünfmal, aber gerade als ich sie am Arm fassen und festhalten wollte, riss sie die linke Hand hoch, reckte einen Finger in die Höhe und stieß damit nach meinem Gesicht. Sie raste vor Zorn. Ekel und Selbsthass im Blick, schlug sie mit der Rechten ihre Linke, als wolle sie die Hand für die Frechheit strafen, diesen einen Finger hochgereck­t zu haben.

»40. Fortsetzun­g folgt

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