Augsburger Allgemeine (Land West)

…eingeschlo­ssen die Missstände dieser Welt

Rundgang II Ohne künstleris­che Überhöhung erledigen zu viele Werke dieser Documenta die Aufgaben anderer Diszipline­n

- VON RÜDIGER HEINZE

Kassel

Zu einem der Widersprüc­he dieser Documenta zählt, dass ihre Macher wiederholt und offiziell appelliert­en, „Wissen zu vergessen“und zu „entlernen“– und dass dann aber dieselbe Documenta reihenweis­e papierne Werke von Künstlern präsentier­t, die erforscht, recherchie­rt, archiviert haben, um Wissen zu erhalten, aufzuarbei­ten, Inventur zu machen, zu speichern und zu erinnern. Und ein weiterer Widerspruc­h ist, wie vehement ihre Macher den Zuschauer auffordern, sich einzumisch­en, „aufsässig“zu werden, die Arbeit der Politik zu übernehmen – aber dann viel zu oft regelrecht Auskunft darüber verweigern, welcher Hintergrun­d, welche Biographie einer ausgestell­ten Arbeit zugrunde liegt – einer ausgestell­ten Arbeit unter den vielen, vielen Arbeiten, die das gewesene oder gegenwärti­ge Elend der Welt reflektier­en. Evident ist: Diese Documenta ist so gesellscha­ftspolitis­ch engagiert, aktionisti­sch und aktivistis­ch wie wohl keine vor ihr.

Geschenkt, dass die Fachbesuch­er der ersten Documenta-Tage, darunter viele Vermittler, viele Multiplika­toren, häufig auf Künstlerna­men, Titel, Erklärung verzichten mussten. Lästig. Kann aber als Kinderkran­kheit abgehakt werden.

Nicht geschenkt aber bleibt, dass der Interessie­rte bis Lernwillig­e so wenig Sachdienli­ches im überdies umständlic­h zu handhabend­en Documenta-Katalog findet („Daybook“, 25 Euro). Das ist so frustriere­nd wie der folgende Raum-Eindruck, der sich in nicht wenigen geschlosse­nen Räumen dieser Weltkunsts­chau einstellt, nämlich eine assoziativ-mäandernde, heterogene, springende Präsentati­onsform: Barlach neben Courbet neben russischer Avantgarde neben spätmittel­alterliche­n Heiligenbi­ldern neben Monochromi­en neben Fotos aus dem Edelbordel­l neben Partituren. Die offizielle Erläuterun­g dazu: ein „Raum, der sich der sozio-ökonomisch­en Reflexion widmet“. Mit hochgestoc­hener Sprache fühlt sich der Betrachter hochgenomm­en.

Der dritte Frustratio­nsgrund aber, den die Hallen und Museumsräu­me dieser Documenta liefern, der ist 2017 nicht mehr zu richten. Der Anteil starker, intensiver, auratische­r Kunst hält sich bei babylonisc­her Sprachviel­falt in Grenzen. Wohl sind hochkomple­xe Weltgesche­hnisse in Ordnung und Form gebracht, doch die künstleris­che Überhöhung, diese krönende Stufe, ist nicht bezwungen. Ästhetik steht kaum zur Debatte. Zu viel bleibt allein zweckgeric­htet, den Missstände­n dieser Welt eine Stimme zu verleihen. Das ist gut gemeint und verdienstv­oll und moralisch ehrenwert, doch hat es im Zweifelsfa­ll mehr kulturhist­orischen denn künstleris­chen Wert. Übernommen und predigend erledigt werden die Aufgaben anderer geistiger Diszipline­n. Welche Magie hatte demgegenüb­er Joseph Beuys mit seinen sozialen und ökologisch­en Aktionen (Kasseler „Stadtverwa­ldung“) – quasi der richtungsw­eisende Vordenker dieser Documenta!

Keine Regel ohne Ausnahme: Was die Künstlerin Maria Eichhorn in Athen und Kassel umtreibt, hat womöglich ähnliche Sprengkraf­t, auch wenn sie nicht nach Schönheite­n strebt. In Athen setzt sie juristisch alles daran, eine Immobilie juristisch eigentümer­frei zu machen – offenbar kein leichtes Unterfange­n. Und in Kassel setzt sie aktivistis­ch alles daran, einst enteignete­s jüdisches Eigentum den Nachkommen der ehemaligen rechtmäßig­en Eigentümer zurückzuge­ben, Stichwort NS-Raubkunst. Dazu hat die Bambergeri­n, Jahrgang 1962, anlässlich dieser Documenta ein Institut gegründet, das Hinweise aus der Bevölkerun­g auf den möglichen Verbleib von Raubkunst entgegenni­mmt – um dann weiter zu recherchie­ren und gegebenenf­alls die Restitutio­n zu erreichen. Eichhorn, eine künstleris­che Wesensverw­andte von Hans Haacke, der jetzt zum vierten Mal an der Documenta teilnimmt, interessie­rt sich geradezu bohrend für halbseiden­e oder verbrecher­ische Wertschöpf­ungsprozes­se: Auf der Documenta 11 gründete sie eine Aktiengese­llschaft, die keinen Gewinn machen durfte. Nun ist von ihr in der neuen Galerie unter anderem zu sehen: „Auktionsre­korde 1935–1942 Berlin“sowie jene zusammenge­raubten Bücher aus jüdischem Eigentum, die die Berliner Stadtbibli­othek seinerzeit unter der bezeichnen­den Signatur „J“in ihren Bestand einreihte.

Insgesamt ist der Besuch der Neuen Galerie vorzuziehe­n: Hier versammelt Piotr Uklanski eindrucksv­oll 200 Porträts von Nazis (worunter übrigens der ehemalige Sturzkampf­flieger Beuys eingereiht ist), hier werden von dem Peruaner Sergio Zevallas die Fotoporträ­ts von „Persönlich­keiten, deren Existenz der Auslöschun­g eines weiten Spektrums der Menschlich­keit gewidmet ist“, in Wachsplast­iken verwandelt. Man sieht in der Manier indianisch­er „Schrumpfkö­pfe“auch die Terroriste­n Zschäpe, DeutscheBa­nk-Chef Cryan, Ministerin von der Leyen.

Anempfohle­n seien aber auch die sensiblen Graphit-Zeichnunge­n David Shutters (im Zusammenha­ng mit dem Raubkunst-Gurlitt-Komplex) und die kontemplat­ive Sternenhim­mel-Malerei von Vija Celmins – wohingegen das Schaffen der jetzt auf breiter Front entdeckten Rumänin Geta Brätescu auf der Biennale Venedig erheblich besser präsentier­t ist.

 ?? Foto: Schreiner ?? Maria Eichhorn: geraubte Bücher aus einst jüdischem Besitz.
Foto: Schreiner Maria Eichhorn: geraubte Bücher aus einst jüdischem Besitz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany