Augsburger Allgemeine (Land West)
Vom guten Leben in der Siedlung
Stadtentwicklung Was Siedler in Bobingen an ihrem Ortsteil schätzen und warum ihnen die gegenwärtige Entwicklung sogar Hoffnung macht. Eine Bestandsaufnahme zum 80-jährigen Bestehen
Bobingen Siedlung
Wer in der Siedlung von Bobingen lebt, macht das gerne. Auch wenn er aus Sicht der Stadtentwicklung, des Generationenwandels und der Infrastruktur zusätzlich belebt werden soll, hat gerade die Ruhe und Abgeschiedenheit ihre Vorteile.
Dabei hat sich der Ort in seiner nun 80-jährigen Geschichte stark gemausert. Aus dem baulichen Anfang im Juni 1937 ist eine schmucke Siedlung mit eigenständigem Leben geworden. Drei Siedler – Franziska Stegherr sowie Gertrud und Michael Stromer – erinnern sich im Gespräch mit unserer Zeitung an die Ursprünge, reflektieren die Gegenwart und äußern ihre Wünsche.
Michael Stromer aus der Mackensenstraße hat viele Gründe, warum er und seine Frau Gertrud gerne in der Siedlung wohnen. „Die unmittelbare Nähe zur Natur und die sich zuletzt wieder gut entwickelte Nahversorgung sind wichtige Pluspunkte“, sagt er. „Zudem weist der Ort keine eintönige Bebauung auf.“Das trage sehr zum vielfältigen Gesicht der Siedlung bei.
Er gehört zwar nicht zu jenen unternehmungslustigen Bürgern, die unter der Führung des „Siedlungsvaters“Dr. Adolf Kämpf, dem damaligen Werkleiter der IG-Farben, den ersten Spatenstich für die Bobinger Siedlung vollzogen haben. Mit seinen 73 Jahren, die er hier lebt, ist Michael Stromer aber so etwas wie ein „Urgestein“.
„Es waren ausgewählte Siedler, die im Juni 1938 die ersten zehn Häuser bezogen“, erinnert sich Stromer. Mit dem heutigen Wohnstandard seien die Gebäude nicht zu vergleichen gewesen. „Die Zimmer waren sehr klein. Wichtig war ein Dach über dem Kopf.“Groß waren allerdings die Gärten.
hatte seinen besonderen Grund. „Das Siedlerkonzept basierte darauf, dass die Familien Platz zum Anbau von Obst und Gemüse und zur Haltung von Kleintieren hatten“, verdeutlicht Stromer. Die Selbstversorgung sei bei der damaligen Lebensmittelknappheit außerordentlich wichtig gewesen. Auch er kann sich noch gut an das Ziegenhüten erinnern. „Vor allem das nahe Wäldchen mit seinen vielen Quellen sei „sein Zuhause“gewesen.
Franziska Stegherr aus der Hindenburgstraße pflichtet ihm bei. „Ein Paradies für Kinder“, stellt die 71-Jährige rückblickend fest. Ohne die Farbwerke hätte es die Siedlung nicht gegeben, konstatiert sie gleichzeitig. Der Betrieb habe die Ansiedlung der Werksangehörigen mit zinsgünstigen Krediten und einem Zuschuss gefördert, erinnert Stromer. „Der Siedlungsbau hat sich für die IG-Farben aber auch gerechnet.“Die Fabrik habe damit qualifizierte Kräfte an sich gebunden.
Franziska Stegherr weiß noch, dass die Grundstücke im Erbbaurecht für 60 Jahre vergeben wurden und in den Häusern nicht selten Familien mit sechs und mehr Kindern gewohnt haben.
In den Anfangsjahren waren die Siedler auf gegenseitige Hilfe und Unterstützung angewiesen. „Ich erinnere mich noch sehr gut an den damaligen Gemeinschaftsgeist und die nachbarschaftliche Hilfe“. Berichtet Stromer. Diese sogenannte „Siedlermentalität“sei auch heute zuweilen noch anzutreffen, so Franziska Stegherr. „Es war ein verschworenes Miteinander.“
Nach der Währungsreform habe sich die Siedlung über die Frieden-, Hindenburg- und Frühlingstraße hinaus mit neuen Baugebieten weiterentwickelt, nicht zuletzt auch, weil der Ort von direkten Kriegseinwirkungen verschont geblieben war, erzählt Michael Stromer. Zudem sei die Infrastruktur gewachsen. Der Ort erhielt kleine Läden, eine Gaststätte und 1953 eine eigene Schule. Damals seien die Straßen in der Siedlung nach Schichtende voll von Fahrradfahrern gewesen, erinnert er sich.
Im Dezember 1958 eröffnete die Bäckerei Hornik. Ein halbes Jahr später wurde der Siedler-Sportverein (SSV) Bobingen gegründet. Zunächst kickten die Fußballer auf dem früheren Sportgelände, dem heutigen Kirchplatz. „Bis heute trägt der Verein zur gesellschaftliDas chen Integration vor Ort bei“, resümiert Stromer. 1960 erfolgte der Bau der Kanalisation. Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm, dem ehemaligen mehrfachen bayerischen Meister auf den Mittelstrecken, der erste Volkslauf in der Bundesrepublik. „Er fand im Oktober 1963 statt und führte auch durch die Straßen der Siedlung.“
Vor all diesen Ereignissen gab es zunächst heftigen Ärger und Streit. Die Siedlung am Fuße des Leitenbergs wurde nach ihrer Gründung von der Gemeinde Bobingen aus verwaltet. Nach dem Krieg meldete Straßberg jedoch Ansprüche auf den Ort an. Es kam zur Abstimmung. „Im Januar 1949 entschieden sich rund 87 Prozent der Siedler für Bobingen“, so Stromer. Drei Jahre später kam die Eingemeindung nach Bobingen. Zum Ausgleich erhielt Straßberg das Gelände am Leitenberg und an der Waldstraße.
Der Wachstumstrend hielt auch in den 1960er- bis 1980er-Jahren an. In mehreren Stufen entstanden neue Wohnhäuser und Blocks. Im Dezember 1968 wurde die Kirche Zur Heiligen Familie eingeweiht. Neben dem 1976 an der Herbststraße errichtete Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt (AWO) entstand 1986 eine zweite, diesmal katholische Einrichtung an der Sommerstraße. Mit dem „Wertachzentrum“und seinen Einkaufsmöglichkeiten legte die Infrastruktur nochmals kräftig zu.
Der damalige Landrat Franz Xaver Frey beschrieb die Entwicklung seinerzeit mit den kurzen Worten: „Vom Siedlerhaus zum Bungalow.“Geblieben sei in all diesen Jahrzehnten das Milieu, bemerkt dazu Gertrud Stromer. „In der Siedlung lebt nach wie vor eine bürgerliche Mittelschicht.“Durch den Zuzug von jungen Familien habe aber eine Verjüngungskur stattgefunden. Die Architektur sei vielfältiger geworden. Dennoch sei in den letzten Jahren die demografische Entwicklung spürbar. Die Siedlung zähle nur noch rund 2000 Einwohner.
„Eine Zeit lang ist von Witwenstraßen’ gesprochen worden, also von Häusern, in denen nur noch eine Person lebt“, weiß Franziska Stegherr. Die heutige Bedeutung der Siedlung sieht sie unter anderem darin, dass zum Verkauf angebotene Häuser sehr schnell veräußert seien. Die Wohnlage ist begehrt.
Die Lebensqualität sei trotz vieler Abgänge und einem Strukturwandel hoch, versichert Gertrud Stromer. „Auch wenn uns ein Metzger, Friseur und Hausarzt fehlt.“Gut sei der neue Lebensmittelmarkt Kauf Nah, ergänzt ihr Mann. „Ein Arzt fehlt uns aber schon sehr“, bekräftigt Franziska Stegherr.
Michael Stromer hebt positiv die Erschließung von 27 neuen Grundstücken nördlich der Herbststraße hervor, die im Sommer 2018 zum Verkauf anstehen. Mit diesen Aktionen würden der Werterhalt der Siedlung und die Nahversorgung hoffentlich dauerhaft gesichert. Von Pessimismus also keine Spur. Zumindest die drei Siedler blicken zuversichtlich nach vorne.