Augsburger Allgemeine (Land West)
Wanderer, triffst du die 9. Sinfonie …
Literatur Jürgen Hillesheim hat zu den Liedern der „Winterreise“eine interessante Theorie
Es muss nicht immer Brecht sein. Auch andere Eltern haben Kunstkinder hervorgebracht, über die tiefschürfend nachzudenken und zu publizieren sich lohnt. So mag es Jürgen Hillesheim ergangen sein, dem Leiter der Augsburger BrechtForschungsstätte, als er von BB den Blick abwandte und ihn statt dessen auf ein anderes richtete: auf den Liederzyklus „Winterreise“, ein Geschöpf doppelter Erzeugerschaft, hier Wilhelm Müller (Text) und dort Franz Schubert (Musik).
Viel und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln ist schon über die in den 1820er Jahren entstandenen Lieder geschrieben worden, immer wieder auch über ihren so gar nicht romantischen Tonfall. Doch hartnäckig hält sich in der breiten Wahrnehmung die Ansicht, die „Winterreise“sei trotz all ihrer Bitternis und Kälte ein gemüthaft-stimmungsvolles Werk, gewissermaßen hinterm zu hören. Dagegen tritt Hillesheim energisch und überzeugend an – wenngleich seltsamerweise auf dem Deckel seines Buches ein Gemälde reproduziert ist, das genau diesen befehdeten wohligen Biedermeierwinterzauber verbreitet.
Entfaltet der Titel seines Buchs, „Die Wanderung ins nunc stans“, erst einmal retardierende Wirkung, so macht er, legt man erst mal ein paar Seiten zurück, dennoch Sinn. Denn das lateinische „nunc stans“, das „zeitlose Jetzt“, weist hin auf Arthur Schopenhauer, und eben hier, in der Nachbarschaft von „pessimistischen Denkmodellen der Zeit“, will Hillesheim die „Winterreise“verortet wissen. Eingerahmt von Schopenhauers philosophischem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“(1819) und Georgs Büchners Drama „Dantons Tod“(1834/35) sieht Hillesheim die einsame Reise des lyrischen Wanderer-Ichs nicht als Folge eines Beziehungskonflikts, als Gang einer we- gen enttäuschter Liebe „gequälten Seele“durch spiegelbildliche Winterlandschaft – sondern als Folge einer viel grundsätzlicheren „existenziellen Fremdheit“des Menschen. Einer Fremdheit, der nicht zu entkommen, die lediglich anzunehmen ist als zeitlos-jetzige Bedingtheit, so wie sie im letzten der Lieder verkörpert ist in der Begegnung mit der Figur des Leiermanns.
Hillesheims Plädoyer für eine fatalistische Sicht auf den Zyklus, dessen 24 Liedern er ausführliche Einzeluntersuchungen widmet, gipfelt in der These, die „Winterreise“sei eine vorweggenommene „Rücknahme der 9. Sinfonie“. Damit nimmt Hillesheim Bezug auf Thomas Manns in den 1940er Jahren entstandenen Roman „Doktor Faustus“, in dem die Hauptfigur, der Komponist Adrian Leverkühn, als letztes Werk eine gewaltige KlageKantate entwirft und damit das „Freude schöner Götterfunken“-Pathos von Beethovens NeunOfen ter außer Kraft setzen will. Der „Gesang der leidenden, geschundenen Kreatur“in der „Winterreise“schon über ein Jahrhundert früher als bei Manns Leverkühn – das ist fraglos eine originelle rückwärts laufende Bezugslinie. Leider trübt Hillesheim seine Scharfsicht selbst dadurch ein, dass er an Schillers und Beethovens „Freude“kein gutes Haar lässt. Das Opus der beiden ist ihm nichts weiter als „selbstgefälligmoralisierender Krach“: Dergleichen fällt doch hart aus dem Rahmen einer Redlichkeit, die der Autor sonst mit fleißigem Verweis auf Belegfußnoten hinreichend pflegt.
Jürgen Hilles heim: Die Wande rung ins „nunc stans“. Wilhelm Müllers und Franz Schuberts „Die Winterreise“.
Rombach 242 S., 48 ¤ Verlag,