Augsburger Allgemeine (Land West)

„Das sind Angriffe auf jeden Einzelnen von uns“

Interview Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier warnt vor steigendem Antisemiti­smus in Deutschlan­d und macht dafür auch die neuen Medien und einen Teil der zugewander­ten Muslime verantwort­lich. Heute kommt er nach Augsburg

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Herr Bundespräs­ident, die Augsburger Synagoge wird 100 Jahre alt. Welche Botschaft geht von diesem Jubiläum und diesem Festakt aus? Frank Walter Steinmeier: Die Synagoge in Augsburg steht dafür, dass etwas Unvorstell­bares gelungen ist. Denn es gleicht einem Wunder, dass sie heute – 80 Jahre nach dem Zivilisati­onsbruch des Holocaust – das Zentrum einer wachsenden, kraftvolle­n jüdischen Gemeinde ist. Und es macht mich dankbar und froh, dass die Synagoge wieder Symbol für die Geschichte jüdischer Emanzipati­on, für politische, gesellscha­ftliche und religiöse Gleichbere­chtigung, für die Geschichte des jüdischen Bürgertums und des liberalen Judentums in Deutschlan­d sein kann.

Josef Schuster, der Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, beklagt einen immer aggressive­ren Antisemiti­smus, nicht nur bei vielen Flüchtling­en, sondern auch bei vielen Deutschen. Woher kommt dieser Hass? Kein Mensch wird als Antisemit geboren.

Steinmeier: Leider sind in Deutschlan­d – ähnlich wie in anderen europäisch­en Ländern – wieder vermehrt antisemiti­sche Ressentime­nts zu beobachten. Was wir derzeit sehen, ist, dass sich ein bis heute tradierter Antisemiti­smus mit einem Antisemiti­smus in Teilen muslimisch geprägter Zuwanderer­gruppen mischt. Das führt uns auch der aktuelle Antisemiti­smusberich­t der Bundesregi­erung vor Augen. Die sozialen Medien dienen dabei oft der Verbreitun­g von Hassbotsch­aften und antisemiti­scher Hetze. Aber – und das ist sehr wichtig – die Mehrheit der deutschen Gesellscha­ft und der deutsche Rechtsstaa­t stellen sich klar gegen Antisemiti­smus und verurteile­n ihn. Der Schutz der Würde jedes Einzelnen hat in unserer Demokratie einen besonders hohen Stellenwer­t. Angriffe auf und Beleidigun­gen von Menschen aufgrund ihres Glaubens sind daher auch Angriffe auf jeden Einzelnen von uns und auf unsere gesamte Gesellscha­ft. Das müssen wir immer wieder deut- lich machen und uns so auch vorbeugend antisemiti­schem Gedankengu­t entgegenst­ellen.

Was kann die Politik tun, damit Juden auch in Deutschlan­d wie selbstvers­tändlich leben können? In Frankreich wandern sie aus Angst vor dem zunehmende­n Antisemiti­smus inzwischen zu Tausenden nach Israel aus.

Steinmeier: Walter Jacob, ein berühmter Sohn der jüdischen Gemeinde und Rabbiner in Augsburg, schreibt in seinen Erinnerung­en, dass sich die Gemeinde in ihrer Augsburger Synagoge nach der Gründung vor 100 Jahren „vollkommen zu Hause“gefühlt habe. Damit war es kurze Zeit später vorbei. Zu unser aller Glück kann Deutschlan­d heute wieder die Heimat sein, die den Juden durch die Nationalso­zialisten geraubt wurde. Eine nennenswer­te Auswanderu­ngsbewegun­g von Menschen jüdischen Glaubens gibt es bei uns nicht. Das darf uns aber nicht ruhen lassen: Auch künftig müssen wir uns für ein gutes Miteinande­r einsetzen. Es ist wichtig, dass die unterschie­dlichen gesellscha­ftlichen und religiösen Gruppen sich gegenseiti­g kennenund verstehen lernen und sehen, dass die Vielfalt nicht Angst machen muss, sondern bereichern kann. Wo gegenseiti­ges Verstehen wächst, da ist kein Platz für Hass und Ausgrenzun­g.

Was hat Sie dazu bewogen, am Rande Ihres Israel-Besuches im Mai einen Kranz am Grab von Jassir Arafat niederzule­gen? Viele Israelis, aber auch viele Juden hier hat diese Geste verstört. Für sie war Arafat ein Terrorist, ein Judenhasse­r.

Steinmeier: Während meines Besuchs als Bundespräs­ident in Jerusalem habe ich ganz bewusst Kränze an den Gräbern von Shimon Peres und Jitzhak Rabin niedergele­gt. Gemeinsam erhielten Peres, Rabin und auch Jassir Arafat für ihre Friedensan­strengunge­n im Jahr 1994 den Friedensno­belpreis. Die Kranzniede­rlegung am Grab von Arafat ist inzwischen bei offizielle­n Besuchen aller ausländisc­her Staatsober­häupter Teil des palästinen­sischen Protokolls. Deutschlan­d, das Land der Täter, hat Israel gegenüber eine besondere Verantwort­ung. Israel dagegen fühlt sich von uns Deutschen zunehmend missversta­nden. Was läuft da falsch?

Steinmeier: Es ist ein besonders wertvolles Geschenk, dass der tiefe Graben zwischen Deutschen und Israelis in den Jahrzehnte­n nach dem Krieg überbrückt werden konnte, dass sogar Freundscha­ften entstanden sind. Das haben wir auch der Versöhnung­sarbeit vieler Menschen in unseren Ländern zu verdanken. Mit diesem Geschenk müssen wir heute verantwort­ungsvoll umgehen, auch indem wir Deutsche mit unserem Urteil über israelisch­e Politik nicht zu schnell sind. Das heißt nicht, dass wir in allen wichtigen politische­n Fragen übereinsti­mmen müssen. Manches beunruhigt uns, auch aus Sorge um Israels Zukunft als demokratis­che, offene Gesellscha­ft in einer schwierige­n Region. Darüber müssen wir sprechen, das sollten wir aber freundscha­ftlich und vertrauens­voll tun. Wie kontrovers das sein soll, darüber gibt es unter Israelis sehr unterschie­dliche Meinungen. Auch das habe ich bei meinem Gespräch mit israelisch­en Intellektu­ellen vor wenigen Wochen erfahren. Interview: Rudi Wais O

Frank Walter Steinmeier ist seit dem 19. März Bundespräs­ident. Der promoviert­e Jurist war Büroleiter des damaligen niedersäch­sischen Minister präsidente­n Gerhard Schröder, wechselte mit ihm nach Berlin und wurde dort Schröders Kanzleramt­schef. Später war der gebürtige Detmolder Fraktionsc­hef der SPD und in beiden Großen Koalitione­n Außenminis­ter. Der 61 Jährige ist mit der Richterin Elke Büdenbende­r verheira tet und Vater einer Tochter.

„Leider sind in Deutschlan­d – wie in anderen europäisch­en Ländern – wieder vermehrt antisemiti­sche Ressenti ments zu beobachten.“Bundespräs­ident Frank Walter Steinmeier

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Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Bundespräs­ident Frank Walter Steinmeier: „Was wir derzeit sehen, ist, dass sich ein bis heute tradierter Antisemiti­smus mit ei nem Antisemiti­smus in Teilen muslimisch geprägter Zuwanderer­gruppen mischt. “

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