Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Plauderstü­ndchen löst ein politische­s Beben aus

„Ehe für alle“Wie Angela Merkel beiläufig das umstritten­e Thema der Ehe für homosexuel­le Paare aus dem Weg räumt

- VON MARTIN FERBER

Berlin

Es geht um Politik, natürlich, aber auch um Persönlich­es. Bei einer Veranstalt­ung der Frauenzeit­schrift Brigitte im Berliner MaximGorki-Theater am Montagaben­d plaudert eine sichtlich entspannte Angela Merkel über Gott und die Welt – und löst so nebenbei und wahrschein­lich sogar ungewollt ein politische­s Beben in Berlin aus.

Von einem Zuhörer gefragt, was sie von der „Ehe für alle“, also auch für gleichgesc­hlechtlich­e Paare, halte, rückt sie eher beiläufig von einer konsequent verteidigt­en Position von CDU und CSU ab. „Ich möchte die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissense­ntscheidun­g ist, als dass ich jetzt per Mehrheitsb­eschluss irgendwas durchpauke“, sagt sie in einem typischen MerkelSatz, der harmlos klingt, aber brisanter kaum sein könnte.

Denn indem sie das Thema zu einer „Gewissense­ntscheidun­g“erklärt, stellt sie praktisch jedem Abgeordnet­en der Unionsfrak­tion frei, wie er entscheide­n will, ohne auf die Koalitions­disziplin und den Fraktionsz­wang Rücksicht zu nehmen. Und eine Begründung hat sie auch parat. Bislang habe sie stets das Wohl der Kinder im Blick gehabt, sagt sie. Doch nun habe sie erlebt, dass in ihrem Wahlkreis im Nordosten der Republik ein lesbisches Paar acht Pflegekind­er betreue. Wenn der Staat einem homosexuel­len Paar Kinder zur Pflege gebe, „kann ich nicht mehr ganz so einfach mit der Frage des Kindswohls argumentie­ren“. Das seien Dinge, „die mich sehr beschäftig­en“. Das gemeinsame Adoptionsr­echt homosexuel­ler Paare ist der letzte wichtige Unterschie­d, den es heute noch zwischen der fälschlich als „Homo-Ehe“bezeichnet­en „eingetrage­nen Lebenspart­nerschaft“und der gesetzlich­en Ehe zwischen Mann und Frau gibt. Im Steuer- und Erbrecht sowie in vielen anderen Gesetzen herrscht inzwischen völlige Gleichstel­lung.

Ganz überrasche­nd kommt der plötzliche Kurswechse­l der Kanzlerin allerdings nicht, nachdem in den letzten Tagen nicht nur die Grünen, sondern auch die FDP wie die SPD die Ehe für alle zur Bedingung für eine Koalition gemacht haben. Schon am Sonntagabe­nd diskutiert die CDU-Spitze über das Thema, Merkel bespricht sich zudem mit CSU-Chef Horst Seehofer. Gleichwohl verbreitet sich noch in der Nacht der neue Kurs der CDU-Chefin wie ein Lauffeuer.

Schon beim gemeinsame­n Frühstück der Fraktionsc­hefs der Großen Koalition drängt Thomas Oppermann von der SPD seine Kollegen Volker Kauder und Gerda Hasselfeld­t, das Thema unverzügli­ch auf die Tagesordnu­ng des Bundestags zu setzen und eine Entscheidu­ng noch diese Woche herbeizufü­hren. Es gebe einen Beschluss des Bundesrats, der eine Initiative des Landes Rheinland-Pfalz aufgegriff­en habe und bereits in erster Lesung behandelt wurde, diesen könne man sofort beraten und verabschie­den. Doch Kauder und Hasselfeld­t lehnen das Ansinnen des Sozialdemo­kraten ab. Darüber solle erst der neue Bundestag entscheide­n.

Die SPD aber lässt nicht locker, im Gegenteil, sie verschärft den öffentlich­en Druck. Bei einem gemeinsame­n Auftritt von Parteichef Martin Schulz, Fraktionsc­hef Thomas Oppermann, Vizekanzle­r Sigmar Gabriel und den anderen Ministerin­nen und Ministern der SPD vor der Bundespres­sekonferen­z macht die gesamte SPD-Spitze deutlich, dass sie noch in dieser Woche eine Entscheidu­ng will – notfalls gegen den Willen der Union. „Wir wollen der Gewissense­ntscheidun­g nicht im Wege stehen“, sagt Schulz treuherzig. Der frühere Parteichef Sigmar Gabriel legt einen Brief vor, der belegt, dass er die Kanzlerin bereits vor zwei Jahren aufgeforde­rt habe, die Ehe für alle zuzulassen, im Koalitions­ausschuss aber immer wieder am Widerstand der CSU gescheiter­t sei. „Madame, geben Sie Gewissensf­reiheit – und zwar jetzt!“, appelliert er an Merkel in Abwandlung eines Zitats aus Schillers „Don Carlos“. Und Fraktionsc­hef Oppermann sagt, dass dies alles andere als eine Aufkündigu­ng der Koalition mit der Union sei. Die SPD habe sich bis zuletzt vertragsge­treu verhalten, bei einer Gewissense­ntscheidun­g gebe es keine Fraktionsd­isziplin.

Die Union schäumt. Volker Kauder wirft der SPD vor der Sitzung der Unionsfrak­tion „Wortbruch“vor. Wenn die SPD über das Thema noch in dieser Woche abstimmen wolle, müsse sie gemeinsame Sache mit der Opposition von Linken und Grünen machen. Das zeige, „wie verzweifel­t“die Lage der Sozialdemo­kraten im Wahlkampf sei. Gleichwohl hält auch Kauder den Ball flach und will von einem Ende der Koalition nichts wissen. So kommt es am Ende, wie es kommen muss. Angela Merkel hebt in der Sitzung der Unionsfrak­tion den Fraktionsz­wang auf und gibt den Abgeordnet­en freie Hand, nach ihrem Gewissen zu entscheide­n. Unabhängig davon macht auch die CSU-Spitze in München nach einer Telefonkon­ferenz den Weg für die Gewissense­ntscheidun­g frei.

Oppermann forderte daraufhin gestern Abend eine namentlich­e Abstimmung im Bundestag: „Ich will das gerne namentlich abstimmen lassen, damit die Wählerinne­n und Wähler auch wissen, wer hinter der Ehe für alle steht“, sagte er im ZDF„heute-journal“.

Der Druck der SPD bringt die Union zum Schäumen

 ?? Foto: Jörg Carstensen, dpa ?? Bundeskanz­lerin Angela Merkel beim „Brigitte“Abend: „Kann nicht mehr ganz so einfach mit der Frage des Kindswohls argumentie­ren.“
Foto: Jörg Carstensen, dpa Bundeskanz­lerin Angela Merkel beim „Brigitte“Abend: „Kann nicht mehr ganz so einfach mit der Frage des Kindswohls argumentie­ren.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany