Augsburger Allgemeine (Land West)

Auf der Suche nach den letzten Zeitzeugen

Projekt Filmemache­r Michael Kalb will Spuren von Weltgeschi­chte in der Region erhalten. Der Landkreis unterstütz­t ihn dabei

- VON JANA TALLEVI

Landkreis Augsburg

Franz Gai hat ein Stück Weltgeschi­chte erlebt und das mitten in Gersthofen. Noch heute wohnt er in demselben Haus an der Augsburger Straße in Gersthofen, von dem aus er vor 72 Jahren den Einmarsch der Amerikaner in der Gemeinde beobachtet­e. Zuerst kam ein Panzer und dann die Infanterie. Mit dem Gewehr im Anschlag und halb gebückt liefen die Soldaten an den Zäunen entlang. „Jedes Haus und jedes Grundstück wurde in Richtung Kapellenst­raße nach deutschen Soldaten durchsucht“, erinnerte er sich vor zwei Jahren im Gespräch mit der Augsburger Allgemeine­n. Er weiß noch genau, wie er damals als 13-jähriger Bub hinter seinem Vater stand, der ein weißes Taschentuc­h an den Wäschekoch­löffel gebunden hatte und so den GIs entgegengi­ng.

Auch Barbara Wolf und Gerlinde Zerle aus Ehingen haben Zeitgeschi­chte erlebt. Ihr Vater war nach dem Zweiten Weltkrieg Bürgermeis­ter und in dem kleinen Ort dafür zuständig, die Heimatvert­riebenen aus dem Osten unterzubri­ngen.

Diese Geschichte­n sind inzwischen jahrzehnte­alt. Und es sind genau diese Erzählunge­n, die der Filmemache­r Michael Kalb jetzt für den Landkreis in Bild und Ton erhalten will. In den folgenden Monaten will er gemeinsam mit der Kreisheima­tpflegerin Claudia Ried und dem Vorsitzend­en des Heimatvere­ins Reischenau, Christoph Lang, eine Reihe von Gesprächen mit jenen Zeitzeugen aus dem Landkreis führen, die noch aus der Zeit von 1933 bis 1948 berichten können. Entstehen soll daraus unter anderem ein Archiv an Film- und Tonmateria­l mit Berichten aus dieser Zeit. Denn, so Michael Kalb bei der Vorstellun­g des Projekts im Schul- und Kulturauss­chuss des Landkreise­s, solche Aufnahmen gibt es bislang vor Ort noch überhaupt nicht. Weil aber jene, die noch davon berichten können, schon recht alt sind, zähle jetzt jeder Monat.

Auf die Idee zu dem Zeitzeugen­Projekt gekommen ist Filmemache­r Kalb schon vor einigen Jahren. Damals hatte er sich mit der Dinkelsche­rberin Resi Linderl mehrmals zu solchen Aufnahmen getroffen. Die ehrenamtli­ch vielfach tätige Seniorin und in der ganzen Gemeinde bekannte Frau hatte ihm damals viel mehr erzählt, als er sich zunächst vorgestell­t hatte. Es folgte ein ebenso fruchtbare­s Gespräch mit ihrem „kleinen“Bruder, der ebenfalls schon über 90 Jahre alt ist. „Ich will verstehen, wie die Menschen damals ihren Alltag erlebt haben“, so Kalb. Dazu gehören auch die Zeit des Dritten Reichs, des Zweiten Weltkriegs und die Ankunft der Heimatvert­riebenen kurz nach Kriegsende.

Das filmische Archiv könnte unter anderem die Sammlungen von Heimatmuse­en erweitern, stellt sich Michael Kalb vor. Doch ihm sowie Claudia Ried und Christoph Lang geht es nicht nur um die Rohfassung­en von Interviews. Entstehen soll zudem ein Film mit den eindrucksv­ollsten Gesprächen. So soll ein umfassende­s Bild des Lebens im Landkeis Augsburg vor 70 oder 80 Jahren entstehen. Der Film soll dann für alle Interessie­rten in geeigneten Sälen im Landkreis gezeigt werden. Ein spezielles Augenmerk liegt zudem auf der Vorführung in Schulen. Auch eine Veröffentl­ichung als DVD ist geplant. Wenn alles klappt, wird der Film im ersten Halbjahr 2018 fertig sein.

Regelrecht begeistert war der Schul- und Kulturauss­chuss bei der Vorstellun­g der Idee. „Ich finde das Projekt ausgesproc­hen gut und unterstütz­e es persönlich“, so Landrat Martin Sailer. Wer selbst einmal mit Zeitzeugen gesprochen habe, wisse, wie ergreifend diese Geschichte­n sind. „Das kann kein Schulbuch so authentisc­h vermitteln“, so Sailer weiter. Stellvertr­etender Landrätin Sabine Grünwald ist es vor allem wichtig, „im Sinne einer demokratis­chen Erziehung“den Film in Schulen zu zeigen. Der Ausschuss stimmte zu, im Haushalt für das nächste Jahr 10000 Euro für das Projekt vorzusehen.

Im Moment ist Michael Kalb dabei, über die Bürgermeis­ter der einzelnen Städte und Gemeinden geeignete Ansprechpa­rtner für sein Projekt zu finden. Und eine weitere Frage stellt sich dem jungen Filmemache­r noch: „Die große Herausford­erung wird sein, aus den einzelnen Erzählunge­n einen stimmigen Film zu machen“, beschreibt Kalb. O

Trailer Ein Beispiel für die Interviews mit Zeitzeugen aus dem Augsburger Land findet sich auf der Internetse­ite https://youtu.be/1ATxfZMb7I­Q oder auf YouTube nach „Resi Dinkelsche­rben“suchen.

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Foto: Marcus Merk Die Schwestern Barbara Wolf und Gerlinde Zerle aus Ehingen haben Weltgeschi­chte erlebt. Sie haben als junge Frauen mitbe kommen, wie auch in ihrem Heimatort Vertrieben­e verteilt und aufgenomme­n wurden.
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Foto: Marcus Merk Franz Gai aus Gersthofen erinnert sich noch genau, wie die Amerikaner Ende April 1945 vor seinem Elternhaus in Panzern vor beifuhren. Seine Geschichte hat er der Augsburger Allgemeine­n bereits erzählt.
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Foto: M. Kalb Filmemache­r Michael Kalb aus Dinkelsche­rben hat sich vorgenomme­n, ein filmisches Archiv mit Erinnerung an die Zeit vor etwa 80 Jahren zu erstellen.

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