Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie Kinder sich wehren können
Missbrauch Jedes Jahr werden allein im Landkreis an die 20 Fälle aktenkundig. Wo es Hilfe gibt, zeigte jetzt ein Theaterstück 600 Schülern. Doppelt so viele wollten es sehen
Gersthofen Und plötzlich ist es bedrückend still in der Stadthalle Gersthofen, als im Theaterstück die achtjährige Alina den Kindern im Publikum erzählt, wie sie der Verlobte ihrer großen Schwester streichelt und ihr zwischen die Beine fasst, sie große Angst hat. Sie weiß, dass sie das nicht will, hat aber keine Worte dafür.
Was bedeutet eigentlich sexueller Missbrauch? Was darf ein Erwachsener, was nicht? Welche Geheimnisse muss ich bewahren? „Trau dich! Ein starkes Stück über Gefühle, Grenzen und Vertrauen“erzählt in klarer, kindgerechter Sprache und mit viel Witz und Musik Geschichten über Gefühle, Grenzüberschreitungen, unangenehmen Situationen und sogar Missbrauch. Und es geht um Lösungen: Wem können sich Kinder anvertrauen? Wo gibt es Hilfe? Behandelt werden die Themen Gefühle, Selbstbestimmung, und Kinderrechte, Körperbewusstsein, Grenzverletzungen und „schlechte Geheimnisse“.
Da sind zum einen harmlosere und lustige Fälle: Wie die Oma, die den zehnjährigen Enkel bei jedem Treffen ausgiebig abknutscht – „einfach eklig!“. Hier geben die Kinder im Publikum Tipps, wie man der Oma dieses Verhalten ausreden, sich wehren könnte. Aber dann gibt es eben auch beklemmende Szenen wie mit dem Verlobten als Sexualtäter.
Die Aufführung der Theatergruppe „Kompanie Kopfstand“, die am Mittwoch insgesamt 600 Grundund Mittelschüler der dritten, vierten und fünften Klassen aus dem Landkreis Augsburg und AichachFriedberg in Gersthofen angeschaut haben, ist das zentrale Element der gleichnamigen bundesweiten Initiative zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs vom Bundesfamilienministerium und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA).
Der Freistaat Bayern ist das sechste Bundesland, in dem die Inititative Station macht. Die Initiative wird in Bayern gemeinsam vom Sozialministerium und vom Bildungsministerium umgesetzt. Ziel ist es, Kinder zwischen acht und zwölf Jahren über ihre Rechte aufzuklären, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und sie zu informieren, wo sie im Notfall Hilfe finden.
Wie Aloisia Wiedenmann vom Schulamt berichtete, kamen nur die Hälfte aller interessierten Schulklassen zum Zug, angemeldet waren 1200 Schüler. Deshalb sehen alle Verantwortlichen große Chancen, dass das Präventionsprojekt nächstes Schuljahr erneut Station im Landkreis macht. Alle Lehrkräfte, die mit ihren Schülern das Stück besuchen, hätten an einer Fortbildung teilgenommen, das Thema sollte im Unterricht vor- und auch nachbereitet werden. Die BzgA stellt dafür umfangreiches Lehr- und Infomaterial zur Verfügung.
„Ich kann mir nur wenig vorstellen, was diese schwierige und oft tabuisierte Thematik besser und feinfühliger behandelt als dieses Theaterstück“, sagte Johannes Hintersberger, Staatssekretär im bayerischen Sozialministerium nach der Aufführung. Man müsse das Thema aufgrund der zunehmenden medialen Beeinflussung schon frühzeitig behandeln, um die Kinder vor Übergriffen und Schaden zu schützen.
Wie Franz Wagner vom Kinderschutzbund im Kreis Augsburg erklärte, könne man mit der Prävention leider nicht früh genug anfangen, denn auch die Opfer seien ja oftmals erheblich jünger als acht Jahre. Im Landkreis Augsburg gab es laut Polizeistatistik jährlich 20 Fälle von Kindesmissbrauch in 2015 und 2016.
Stefanie Amann von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fügte hinzu, dass Kinder sich zwischen acht und 12 Jahren in einer besonders verletzlichen Phase befänden. Und über die Schule könne man zum Glück alle erreichen, doch auch die Erwachsenen müssten „zuhören und handeln“, denn die Botschaft eines Kindes könne nicht immer gleich verstanden werden. „Deshalb ist dieses Theaterstück so wertvoll“, findet Franz Wagner, denn eine solche sachliche Aufklärung sorge dafür, „dass die Kinder überhaupt erst eine Sprache dafür finden, um sich darüber äußern zu können.“
Doris Stuhlmiller vom Jugendamt des Landkreises berichtete, dass im Jahr 2016 insgesamt 208 Meldungen von besorgten Erwachsenen bei der Behörde eingingen, die den Verdacht äußerten, das Wohl eines Kindes könnte in irgendeiner Weise gefährdet sein - durch Gewaltanwendung, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch. Jeder zehnte Verdacht dieser Art hatte eine gerichtliche Maßnahme zur Folge, manchmal sogar eine Herausnahme des Kindes aus der Familie. Doris Stuhlmiller betont: „Kinderschutz ist Aufgabe der Erwachsenen.“
Zuerst einmal brauchen die Kinder aber den Mut, die Angst zu überwinden und sich einem Erwachsenen anzuvertrauen. Auch Alina im Theaterstück traut sich schließlich und erzählt ihrer großen Schwester, was passiert ist.