Augsburger Allgemeine (Land West)

Vom Ober zum Wutbürgerm­eister

Buchvorste­llung Der frühere Münchner OB Christian Ude (SPD) hat eine Streitschr­ift verfasst, die es in sich hat. Er schont weder politische Freunde noch Gegner und nicht einmal sich selbst

- VON ULI BACHMEIER

München

Es ist unruhig in der letzten Reihe. Ein weißhaarig­er Herr wetzt auf seinem Stuhl herum. Er zischt: „Nicht zu fassen!“Dann hält er plötzlich ein Schild hoch, das ihm die Aufmerksam­keit des voll besetzten Saales einbringt. Nur zwei Worte stehen drauf: „Thilo Ude“. Der Adressat des stillen Protests, Münchens früherer Oberbürger­meister Christian Ude, sitzt vorne auf dem Podium. Er weiß genau, was gemeint ist. Die rund 150 Zuhörer im Saal des Bildungsze­ntrums der Volkshochs­chule an der Einsteinst­raße wissen es auch.

Ude wird schon, kaum dass sein neues Buch einen Tag auf dem Markt ist, mit Thilo Sarrazin („Deutschlan­d schafft sich ab“) verglichen. Der frühere Berliner Finanzsena­tor, SPD-Politiker und Bundesbank­vorstand hat im Jahr 2010 mit mutmaßlich rassistisc­hen Äußerungen bundesweit für Aufsehen gesorgt. Ihm wird bis heute vorgeworfe­n, rechtsradi­kales Gedankengu­t wieder salonfähig gemacht zu haben. Der weißhaarig­e Herr in der letzten Reihe ist offenkundi­g der Ansicht, dass mit Ude und seinem Buch nun Ähnliches droht. Ist da erneut ein prominente­r Sozialdemo­krat von der linken Mitte nach Rechtsauße­n abgebogen?

Von wegen, sagt Ude. In mancherlei Hinsicht sei er sogar noch weiter nach links gerückt. Das Potenzial, ein echter Aufreger zu werden, aber hat seine Streitschr­ift dennoch. Sie ist eine scharfe Abrechnung mit dem politische­n Establishm­ent. Ude hat den Oberbürger­meister hinter sich gelassen und sich zu einer Art Wutbürgerm­eister gewandelt. Er will die Bürger wachrüttel­n, schont dabei weder Parteifreu­nde noch politische Gegner und übt – was ihm wohl kaum einer zugetraut hätte – sogar Selbstkrit­ik.

Diese Selbstkrit­ik findet sich vor allem in dem Kapitel zur Flüchtling­spolitik. Ude räumt ein, die Probleme der Integratio­n unterschät­zt zu haben. Er schreibt: „Die Frage, ob Integratio­n überhaupt gelingen kann, ist heute in Wahrheit umstritten­er denn je, obwohl das Ziel noch nie so unumstritt­en war wie heute.“Er gibt zu: „Offen gesagt habe ich mir, wie wohl fast alle, die sich für Integratio­n engagierte­n, die Sache viel zu einfach vorgestell­t.“Dennoch kommt er einige Seiten weiter hinten zu dem Schluss: „So, wie die Realität inzwischen ausschaut, ist ein Leben ohne Integratio­n schlichtwe­g nicht möglich.“

Im Gespräch mit dem Journalist­en Heinrich Wefing in München berichtet Ude, wie er sich vom Befürworte­r zum Gegner einer doppelten Staatsbürg­erschaft für hier lebende Türken gewandelt hat. Einst habe er gedacht, sie diene der Überwindun­g des türkischen Nationalis­mus. Jetzt ist er der Ansicht, sie sei „die Waffe des schlimmste­n Nationalis­mus, den es zurzeit auf deutschem Boden gibt“. In den großen Städten der Türkei hätten Staatschef Erdogan und seine islamistis­che Partei AKP beim Verfassung­sreferendu­m eine 60-Prozent-Mehrheit gegen sich gehabt. Die Türken, die in dritter Generation in Deutschlan­d leben, hätten dagegen mehrheitli­ch für Erdogan gestimmt. Für Ude ist das ein Beleg, dass Integratio­n nicht funktionie­rt hat.

Vehement fordert der 69-Jährige, solche Realitäten anzunehmen, auszusprec­hen und zu diskutiere­n. Den etablierte­n Parteien wirft er vor, genau das Gegenteil zu tun. Das gilt für die Kanzlerin und ihre „verhängnis­volle“Strategie der Demobilisi­erung. Angela Merkel, so Udes Vorwurf, schläfere mit ihrer Rede von der „Alternativ­losigkeit“die

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Archivfoto: Peter Kneffel, dpa Ein grimmiger alter Herr? Nein, ganz so ist es nicht. Christian Ude, 69, lacht auch noch viel und gerne. Mit seiner Kritik am po litischen Establishm­ent aber ist es ihm sehr ernst.

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