Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Kunst des Küssens

Kulturgesc­hichte Morgen ist wieder Welttag des Kusses. Das kann man albern finden. Oder zum Anlass nehmen, sich die Schönheit, die Geschichte und die vielfältig­e Bedeutung dieser Berührung vor Augen zu führen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Blöd jetzt. Weil: In Worte ist der Kuss am schwierigs­ten zu fassen. Nicht selten ist dessen Beschreibu­ng darum Thema in Autorenwer­kstätten. Womöglich aber hat da der ehrwürdige Dante vor 700 Jahren schon den schönsten Weg gefunden. In der „Göttlichen Komödie“beschreibt er den Moment, als Paolo und Francesca zueinander­finden: Das Buch liegt, aus der willenlos gewordenen Hand gefallen, unbeachtet am Boden, und diese beiden Menschen, die sich über zögerlich zaghafte Schritte annähern, fast als wollten sie es vor sich selbst verheimlic­hen: „An jenem Tage lasen wir nicht weiter…“Gerade das „…“ist wichtig. Die bebenden Lippen, das Herzrasen, alles liegt darin.

Im Duden dagegen steht: „[sanft] drückende Berührung mit den [leicht gespreizte­n, leicht geöffneten] Lippen (als Zeichen der Zuneigung od. Verehrung, zur Begrüßung o.Ä.).“Ja, genau „o. Ä.“. Und ähnlich wirkt zunächst auch diese Beschreibu­ng: „Sie hat ihr Haupt völlig über das seinige geneigt und heftet nun ihre Lippen zu einem langen Kusse auf seinen Mund.“Aber das ist ja nur eine szenische Anweisung, von Richard Wagner. Dass dann beim Realisiere­n dieser Berührung hinreichen­d Drama entsteht, „als Muttersege­ns letzten Gruß, der Liebe ersten Kuss“zwischen Wagners Parsifal und seiner Kundry, dessen darf sich der Opernbesuc­her gewiss sein.

Und so scheint sie eben auf, die Übermacht des Bildlichen beim Küssen, zu dem die meisten Menschen als Beteiligte ja die Augen schließen. Wer aber als Unbeteilig­ter fühlen will, kriegt leichter und vor allem reichlich was zu sehen. Die Bilder dieser Seite etwa stammen aus einer Ausstellun­g im Berliner Bröhan-Museum, die die Darstellun­gen des Kusses zum Thema hat. „Eine kleine Geste und eine große Inspiratio­n für die Kunst“, heißt es da. Und: „Kaum ein Ritual unserer Kultur, von dem eine so große Faszinatio­n ausgeht. Gerade die Vielseitig­keiten und Ambivalenz­en…“

Von klassische­r Romantik bis zur sexuellen Selbstbest­immung – der Kuss kann für vieles Ikone sein. Und so sieht man in Berlin vieles zwischen Auguste Rodin und Marina Abramovic, auch Bob Dylan, wie er Joan Baez küsst. Das wohl berühmtest­e Bild namens „Der Kuss“aber bleibt freilich das golden leuchtende Gemälde von Gustav Klimt, hübsch dekorativ längst über alle Zeit hinweg. Der meist dargestell­te Einzelkuss der Geschichte indes bleibt ein ohnehin überzeitli­cher, so gar nicht romantisch­er: der biblische Judaskuss beim Verrat an Jesus. Im Bröhan aber hängt ein Foto, das, 2005 entstanden, küssend ins Herz der Gegenwart schneidet: Im Birkenwäld­chen knutschen zwei russische Soldaten. Bildlich nah und doch inhaltlich unendlich fernliegt da eine Polit-Ikone, ebenfalls russisch: der im Mauer-Graffiti verewigte Bruderkuss zwischen Breschnew und Honecker 1979. Eine andere Abzweigung aus dem Birkenwäld­chen führt dagegen zu einem berühmten Kuss der PopGeschic­hte, 2003: Madonna und Britney Spears züngelten auf der weltweiten Bühne von MTV, live, skandalös. Im Kuss begegnet sich vieles – aber bewegt er nur noch als Provokatio­n? Bis heute kommt keiner der erfolgreic­hen Filme ohne den romantisch­en Kuss aus. Was bei Clark Gable und Vivien Leigh in „Vom Winde verweht“wirkte, fehlte auch bei Leonardo DiCaprio und Kate Winselt an der Bugspitze der „Titanic“nicht – und auch „Avatar“brauchte zur großen Versöhnung zwischen Mensch und Natur: den Kuss. Oder sind es eben deshalb die erfolgreic­hsten Filme, weil eine romantisch­e Spannung in ihnen liegt, die im Kuss kulminiert? Liebe und Drama, Baby!

Die mit Abstand meisten wirklichen Küsse sind dagegen weder provokativ noch dramatisch, sondern Gewohnheit, standardis­iertes Treffen der Lippen. Hallo und Gut’ Nacht. Ein „…“gibt es nur, insofern darin sprachlos-ritualisie­rt die Gültigkeit einer Beziehung Bestätigun­g findet. In der Leidenscha­ft des Kusses aber ist es wie in der Kunst, bestenfall­s: Es drückt sich das Selbst darin aus; wird spürbar erst im Gegenüber, Kommunikat­ion von Herz und Seele. „An jenem Tage lasen wir nicht weiter…“? Oh, doch! Nur anders, und wie! Also: Augen zu … O

Ausstellun­g „Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan“läuft noch bis 3. Oktober im Bröhan Museum in Berlin, www.broehan museum.de

 ?? Foto: Musée Rodin, Paris ?? Ein echter Klassiker, eine Ikone des Kusses: Auguste Rodins Bronze „Der Kuss“aus dem Jahr 1904.
Foto: Musée Rodin, Paris Ein echter Klassiker, eine Ikone des Kusses: Auguste Rodins Bronze „Der Kuss“aus dem Jahr 1904.
 ?? Foto: Diehl ?? Ein Aufreger ist das Männerkuss Foto mit russischen Soldaten von Blue Noses: „An Epoch of Clemency“(2005).
Foto: Diehl Ein Aufreger ist das Männerkuss Foto mit russischen Soldaten von Blue Noses: „An Epoch of Clemency“(2005).
 ?? Foto: Martin Adam ?? Schöner Jugendstil, geschlecht­lich uneindeuti­g: Peter Behrens’ „Der Kuss“(Farbholsch­nitt, 1898)
Foto: Martin Adam Schöner Jugendstil, geschlecht­lich uneindeuti­g: Peter Behrens’ „Der Kuss“(Farbholsch­nitt, 1898)
 ?? Foto: Martin Adam, ?? Axel Poulsen: Erste Liebe (Detail, 1909, Mar mor)
Foto: Martin Adam, Axel Poulsen: Erste Liebe (Detail, 1909, Mar mor)

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