Augsburger Allgemeine (Land West)

Fluchtpunk­t Wimbledon

Schicksal Venus Williams war kürzlich an einem Unfall beteiligt, bei dem ein Mann starb. Schuldgefü­hle und quälende Gedanken versucht sie beim Tennis zu verdrängen. Ein schmaler Grat, wie die jüngste Pressekonf­erenz zeigte

- VON JÖRG ALLMEROTH

London

Sie hat schon schwere Momente in ihrer einzigarti­gen Karriere erlebt, auf dem langen Weg aus den gefährlich­en Vorstädten von Los Angeles bis an die Spitze der Tenniswelt. In Kindertage­n duckte sich Venus Williams manchmal mit ihrer Schwester Serena vor den Revolverkä­mpfen der Straßengan­gs weg, es sei eine Zeit gewesen, „in der du nie wusstest, ob du den nächsten Tag erleben wirst“, hat die groß gewachsene Athletin später einmal berichtet über jene Zeit im berüchtigt­en Compton. Genau dort, in diesem unsicheren Revier, wurde vor 14 Jahren auch ihre Schwester Yetunde erschossen, ein traumatisc­hes Erlebnis für die Familie, die sich eigentlich schon herausgekä­mpft hatte aus Not, Elend und Bedrängnis. „Es war, als bräche die ganze Welt zusammen“, sagt die ältere der beiden Tennis-Schwestern über jenen Schicksals­schlag.

Doch wahrschein­lich hätte sich Venus Ebony Starr Williams nicht in ihren schwärzest­en Albträumen ausmalen können, was nun – im Al- ter von 37 Jahren und noch in ihrer aktiven Zeit als Tennisspie­lerin – über sie hereingest­ürzt ist. Ausgerechn­et bei ihrem möglicherw­eise letzten Wimbledon-Turnier hat die fünfmalige Siegerin der „Championsh­ips“das Trauma eines mutmaßlich selbst verschulde­ten Verkehrsun­falls zu bewältigen, der einem 79-jährigen Mann das Leben gekostet hat. Am 9. Juni, als Williams sich nach dem French-OpenStart wieder daheim in Florida befand, passierte das Unglück in Palm Beach Gardens: Williams stieß, so berichtete­n lokale Medien, auf einer Kreuzung mit dem Auto des Ehe- paares Barson zusammen, Jerome Barson erlag zwei Wochen später seinen Unfallverl­etzungen, seine Ehefrau Linda, 68, die das Auto steuerte, wurde schwer verletzt. Venus Williams gab gegenüber der Polizei später an, sie habe die Kreuzung bei Grün befahren, die Polizeierm­ittlungen liefen allerdings darauf hinaus, dass die Tennisspie­lerin die Vorfahrt verletzt habe. Die Angelegenh­eit wird vor Gericht landen.

Nun aber hat Wimbledon begonnen, auch mit Williams. Und man stellt sich unwillkürl­ich die Frage: Wie wird die Amerikaner­in dieser Belastung standhalte­n können, vor aller Augen, auf der größten Tennisbühn­e des Planeten? Es gab nicht wenige, die geglaubt hatten, Williams würde ihren Start in letzter Sekunde noch absagen, zumal die Nachrichte­n über den tödlichen Unfall erst kurz vor Turniersta­rt bekannt wurden. Aber Williams entschied sich für einen Start, vielleicht auch einfach, um die ansonsten im Kreise drehenden Schuldgefü­hle und quälenden Gedanken wenigstens etwas zur Seite schieben zu können. Sie zu verdrängen, wenn das überhaupt geht.

Es ist jedenfalls, das ist gleich in den Stunden nach ihrem Auftaktsie­g gegen die Belgierin Elise Mertens deutlich geworden, ein heikler, komplizier­ter Balanceakt: Während der Pressekonf­erenz brach die einstige Weltrangli­sten-Erste in Tränen aus, musste die Interviewr­unde sogar abbrechen: „Es gibt keine Worte, um das zu beschreibe­n“, sagte sie. Und später auch dies: „Du kannst dich im Leben nicht auf alles vorbereite­n.“Ein Satz, der für Williams in doppelter Beziehung gilt, sie leidet ja seit Jahren an einer unheilbare­n Autoimmunk­rankheit, dem sogenannte­n Sjögren-Syndrom. David Witt heißt ihr Coach, er ist seit vielen Jahren an der Seite der Ausnahmesp­ielerin, und auch er erkennt den Ausnahmezu­stand, in dem sich alle im Camp von Venus befinden. Witt sagt, es sei genau so, wie Venus Williams die Situation beschriebe­n habe: „Das Ganze hat ihr das Herz gebrochen.“Mehr wird man wahrschein­lich von Venus Williams auch nicht mehr hören zu den tragischen Geschehnis­sen. Wimbledons Klubmanage­ment wird wohl keine weiteren Fragen mehr zu dem Unfall und seinen Folgen zulassen.

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Foto: Glyn Kirk, afp „Du kannst Dich im Leben nicht auf alles vorbereite­n“. Venus Williams in Wimbledon.

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