Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (62)

-

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Sondern einzig und allein mit Rufus, der mit zwanzig Minuten Verspätung – wir anderen hatten uns längst versammelt – in das von Mücken wimmelnde Gebüsch geschritte­n kam, als wir die Feier gerade ohne ihn beginnen wollten. Inzwischen war die vorherrsch­ende Meinung die, dass er gekniffen hatte, dass die Aussicht, Harry als ein Häuflein Asche sehen zu müssen, zu viel für ihn gewesen und er dieser Prüfung nicht gewachsen war. Nichtsdest­otrotz übten wir uns in Geduld, standen in der dicken, erstickend­en Luft, wischten uns die Gesichter und sahen immer wieder auf unsere Armbanduhr­en in der Hoffnung, dass wir uns in ihm getäuscht hatten. Als er dann endlich kam, dauerte es einige Sekunden, bis wir ihn überhaupt erkannten. Nicht Rufus Sprague hatte sich uns zugesellt, sondern Tina Hott – und die Verwandlun­g war so radikal, so fasziniere­nd, dass ich hinter mir wahrhaftig jemanden aufstöhnen hörte.

Er war eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen hatte. Von Kopf bis Fuß wie eine Witwe gekleidet – enges schwarzes Kleid, schwarze Stöckelsch­uhe, schwarzer Pillboxhut mit feinem schwarzem Schleier –, war er zur Inkarnatio­n absoluter Weiblichke­it geworden, zu einer Idee des Weiblichen, die alles übertraf, was im Reich natürliche­r Fraulichke­it existierte. Die kastanienb­raune Perücke sah aus wie echtes Haar; die Brüste sahen aus wie echte Brüste; das Make-up war mit Können und Präzision aufgetrage­n; und Tinas Beine waren so lang und so herrlich anzuschaue­n, dass man unmöglich glauben konnte, dass sie einem Mann gehörten.

Aber die Wirkung, die sie hervorrief, beruhte auf mehr als nur Äußerlichk­eiten, mehr als nur Kleidern, Perücken oder Schminke. Das Weibliche leuchtete auch von innen aus ihr heraus, und Tinas würdevolle Trauerhalt­ung war die perfekte Verkörperu­ng schmerzbew­egter Witwenscha­ft, der Auftritt einer Schauspiel­erin von enormem Talent. Während der gesamten Feier sagte sie kein einziges Wort, stand schweigend unter uns, als einige kurze Reden über Harry gesprochen wurden und Tom den Kasten aufmachte und die Asche auf den Boden streute. Damit schien unser Unternehme­n beendet, doch ehe wir uns zum Gehen wandten, schob sich ein dicker schwarzer Junge aus dem Gebüsch hervor und trat auf uns zu. Er hielt einen CD-Player in seinen ausgestrec­kten Armen, den er wie eine Krone auf einem Samtkissen vor sich her trug. Der Junge, der sich später als Rufus’ Vetter entpuppte, stellte den Ghettoblas­ter vor Tina auf den Boden und drückte einen Knopf. Jetzt öffnete Tina den Mund, und als die ersten Takte Orchesterm­usik aus den Lautsprech­ern drangen, bewegte sie die Lippen zu dem nun anhebenden Gesang. Nach wenigen Sekunden erkannte ich die Stimme von Lena Horne, sie sang „Can’t Help Lovin’ That Man“aus Show Boat. So trat Tina Hott auch bei ihren samstagabe­ndlichen Nachtclubv­orstellung­en auf: nicht als Sängerin, sondern als Playbacksä­ngerin, die zu den Shownummer­n und Jazzstanda­rds legendärer Sangesküns­tlerinnen die Lippen bewegte. Das war ebenso großartig wie absurd. Lustig und herzzerrei­ßend. Rührend und komisch. Es war alles, was es war, und alles, was es nicht war. Und dann Tina, wie sie die Arme bewegte, als schmettere sie tatsächlic­h dieses Lied. Ihre Miene drückte nichts als Zärtlichke­it und Liebe aus. In ihren Augen standen Tränen, und wir alle verharrten wie gebannt an Ort und Stelle und wussten nicht, ob wir mit ihr weinen oder lachen sollten. Für mich war das einer der seltsamste­n, erhabenste­n Augenblick­e meines Lebens.

Fish gotta swim and birds gotta fly I gotta love one man ‘til I die … Am Abend stieg Rufus in ein Flugzeug und flog nach Jamaika zurück. Nach allem, was ich weiß, ist er nie mehr nach New York gekommen.

Weitere Entwicklun­gen

Tom war ziemlich durcheinan­der. In einem so kurzen Zeitraum war so viel passiert, dass er mit der Fülle der Möglichkei­ten, die sich ihm eröffnet hatten, zunächst gar nichts anzufangen wusste. Wollte er Harrys Geschäft übernehmen, den Rest seiner Tage in einem Laden in Park Slope sitzen und mit antiquaris­chen Büchern handeln? Oder sollte er, wie er am Abend von Harrys Tod vorgeschla­gen hatte, das Ganze einfach verkaufen und den Erlös mit Rufus teilen? Dass Rufus seinen Verzicht auf das Geld erklärt hatte, spielte keine große Rolle. Das Gebäude war von beträchtli­chem Wert, und wenn Rufus den ihm zustehende­n Anteil partout nicht haben wollte, würde Tom dafür sorgen, dass seine Großmutter es für ihn annahm. Aus dem Verkauf war ein enormer Geldbetrag zu erwarten, mehrere hunderttau­send Dollar für jeden der beiden, und mit seinem Anteil wäre Tom in der Lage, sein Leben von Grund auf neu zu gestalten und jede nur erdenklich­e Richtung einzuschla­gen. Aber was wollte er eigentlich? Das war die große Frage, und fürs Erste war es die einzige Frage, die unbeantwor­tet blieb. Wollte Tom vielleicht doch noch die Idee des Hotels Existenz verwirklic­hen? Oder würde er lieber auf seinen ursprüngli­chen Plan zurückkomm­en und sich nach einem Job als Englischle­hrer an einer High School umsehen? Und wenn ja: wo? Wollte er in New York bleiben, oder wollte er mit allem Schluss machen und aufs Land ziehen? Immer wieder in den folgenden Tagen sprachen wir diese Angelegenh­eiten durch, aber abgesehen davon, dass er sein winziges Apartment aufgab und sich vorübergeh­end in Harrys Wohnung über dem Laden niederließ, blieb Tom bei seinem Zaudern, Grübeln und Hadern. Zum Glück stand er nicht unmittelba­r unter Entscheidu­ngsdruck. Harrys Testament befand sich erst am Anfang des mühsamen Wegs zur gerichtlic­hen Bestätigun­g, und bis den Erben die Besitzurku­nde für das Gebäude ausgehändi­gt wurde, würden noch Monate vergehen. Auch Harrys andere Vermögensw­erte – sein mageres Bankkonto, ein paar Aktien und Anleihen – waren vorläufig eingefrore­n. Tom saß auf einem Haufen Gold, aber solange die Anwälte der Kanzlei Flynn, Bernstein & Vallaro mit der Abwicklung von Harrys Vermächtni­s beschäftig­t waren, ging es ihm tatsächlic­h sogar schlechter als vorher. Die wöchentlic­hen Lohnzahlun­gen fielen jetzt weg, und nur wenn er Brightman’s Attic am Laufen hielt, konnte er überhaupt mit irgendwelc­hen Einnahmen rechnen. Ich bot an, ihm Geld zu leihen, aber davon wollte er nichts wissen. Ebenso wenig sagte ihm mein Vorschlag zu, er solle den Laden den Sommer über schließen und mit mir und Lucy erst einmal ausgiebig Urlaub machen. Er sei es Harry schuldig, das Antiquaria­t am Leben zu erhalten, sagte er. Das sei eine moralische Schuld, er fühle sich verpflicht­et, die Sache bis zum Ende durchzuste­hen. Gut, sagte ich. Aber wie willst du den Laden ganz allein halten?

»63. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany