Augsburger Allgemeine (Land West)
Mit Kind und 24 Frauen in einer Zelle
Schicksal Die türkischen Behörden werfen der Ulmer Journalistin Mesale Tolu Terrorpropaganda vor. Am 1. Mai stürmen sie ihre Wohnung. Seitdem sitzt sie in Istanbul im Gefängnis – gemeinsam mit ihrem zweijährigen Sohn
Neu Ulm/Istanbul
Ein kleiner Ball aus Plastik ist alles, was der zweijährige Serkan hat. Seine einzige Beschäftigung seit über 50 Tagen – inmitten der Gefangenen im Istanbuler Frauengefängnis. Dort lebt er mit seiner Mutter, der Ulmer Journalistin Mesale Tolu Çorlu, die in der Nacht zum 1. Mai von türkischen Polizisten in ihrer Wohnung in Istanbul festgenommen wurde. Seither wartet sie darauf, den genauen Grund für ihre Inhaftierung zu erfahren. Wie Baki Selcuk, Sprecher des Solidaritätskreises „Freiheit für Mesale Tolu“, bestätigt, liegt noch immer keine Anklageschrift gegen die junge Mutter vor – ein Zustand, der sich so schnell auch nicht ändern wird, glaubt er.
Denn auch Tolus Anwältin seien bislang keine genauen Gründe für die Inhaftierung genannt worden. Lediglich so viel: Die Behörden werfen der 33-Jährigen mit deutscher Staatsbürgerschaft vor, als Journalistin Terrorpropaganda betrieben zu haben und Mitglied einer Terrororganisation zu sein. Doch Beweise oder Begründungen für den Vorwurf gibt es laut Selcuk immer noch nicht.
Das sei keine Seltenheit in der Türkei. Selcuk nennt ein Beispiel: Auch Figen Yüksekdag, der früheren Vorsitzenden der prokurdischen HDP, wurde „Terrorpropaganda“vorgeworfen und erst 274 Tage nach der Festnahme habe ihre Gerichtsverhandlung stattgefunden. Seit Dienstag läuft das Verfahren gegen Yüksekdag, die dem Gericht vorwarf, auf Geheiß der Regierung zu handeln. Auch Tolu ist dieser Meinung und tat das kürzlich in einem Brief an ihre Familie in Neu-Ulm kund. Darin schreibt sie, den Grund für ihre „überfallartige Festnahme“zu kennen: In der Türkei habe sie zuletzt für die sozialistische Presse gearbeitet. Die türkische Regierung ließ bereits in den Monaten zuvor einige oppositionelle Medienhäuser schließen. Dort, wo dies nicht möglich war, führe „die Diktatur ihren Angriff“in Form von Verhaftungen von Journalisten, Autoren und Karikaturisten fort.
In ihrem Brief beschreibt Tolu auch, wie sich die Festnahme zugetragen habe: „Am Morgen des 1. Mai, dem Tag der Einheit, Solidarität und des Kampfes der Arbeiterklasse, wurde meine Wohnung unter dem Vorwand gestürmt, ,vorbeugen’ zu wollen.“Die junge Mutter berichtet, dass die Einsatzkräfte auch auf ihren Sohn keinerlei Rücksicht nahmen: „Er war in der Zwischenzeit durch den Lärm erwacht und weinte in seinem Zimmer. Man erlaubte mir nicht, aufzustehen und ihn zu beruhigen. Stattdessen ging einer der Polizisten der Spezialeinheit mit seiner Waffe in sein Zimmer. Obwohl ich mehrmals darauf hingewiesen hatte, dass zu Hause ein Kleinkind anwesend ist, wurde meinem Sohn nichts erspart.“Die Wohnung der beiden sei in kürzester Zeit verwüstet worden. „Ich verstehe immer noch nicht, warum man so gewalttätig in eine Wohnung eindringt, in der eine Frau und ein Kind wohnen, und was sie versucht haben, dort vorzufinden.“
Zwei Wochen nach der Nacht, die alles veränderte, durfte der zweijährige Serkan seine Mutter im Gefängnis besuchen – und dort bleiben. Wie Selcuk, der Sprecher des Solidaritätskreises, erzählt, teilen sich Mutter und Sohn nun eine Zelle mit 24 Frauen. „Sie muss dort damit auskommen, was vorhanden ist.“Essen müsse Tolus Sohn das, was es in der Gefängnisküche gibt. Einweg-Windeln gebe es nicht und alle Versuche des deutschen Konsulats, welche zu beschaffen, seien aufgrund „neuer Bestimmungen“fehlgeschlagen. Diese seien es auch, die weitere Dinge erschweren: „Kleidungsstücke dürfen nur ins Gefängnis gebracht werde, wenn noch das Etikett dran ist. Außerdem sind bestimmte Farben verboten“, sagt Selcuk. Für den Gefängniskindergarten sei Serkan noch zu jung und in die Spieleecke dürfe seine Mutter nicht mit. „Ein Wärter würde ihn abholen und dorthin bringen. Aber erklären Sie mal einem Zweijährigen in fremder Umgebung, dass er mit einem fremden Mann allein irgendwohin gehen soll.“
Wie lange das noch so weiter gehen wird? Selcuk hat keine Antwort darauf. Jedoch ist er sicher: „Mesale