Augsburger Allgemeine (Land West)

Wenn aus dem Urlaub ein Hilfseinsa­tz wird

Porträt Ingrid Klein wollte in Ecuador Freunde besuchen. Als es im Nachbarlan­d Kolumbien zu einer Natur-Katastroph­e kommt, ändern sich die Pläne schlagarti­g

- VON ALEXANDER RUPFLIN

Und da steht sie plötzlich, in dem Fenster einer der zahllosen Ruinen. Die bunt bemalte Marien-Figur und sie blickt ihr, Ingrid Klein, Lehrerin aus Augsburg, entgegen und dann ist sie sehr ergriffen, am dritten Tag in Mocoa, Südkolumbi­en. Irgendjema­nd muss die Figur dort aufgestell­t haben, nach der Katastroph­e. Um sie herum nichts als Schlamm, Schutt und Schicksale.

Einige Monate zuvor: Die Lehrerin, seit 18 Jahren steht sie in der Augsburger Fachobersc­hule vor der Tafel, bucht einen Flug nach Ecuador. Sie will dort Freunde besuchen. Von 2008 bis 2011 hatte sie vor Ort in einer deutschen Schule gearbeitet und „dort mein Herz gelassen“. Sie lernte die Sprache, Kultur und Musik lieben. Findet Freunde fürs Leben. Regelmäßig reist sie in das Land, und wenn das auch nur für zwei Wochen ist. Geplant waren in diesem Jahr die Osterferie­n.

Dann, wenige Tage vor dem Abflug, kommt es im Nachbarlan­d Kolumbien mitten in der Nacht zu einer Tragödie. Nach extremen Regenfälle­n begräbt eine Schlammlaw­ine die 45 000-Einwohner-Stadt Mocoa unter sich. 300 Tote, mindestens ebenso viel Vermisste. Die Medien berichten von einer der schlimmste­n Naturkatas­trophen in der Geschichte des Landes. Einige der ecuadorian­ischen und kolumbiani­schen Freunde der 50-Jährigen sind für die ehrenamtli­che Rettungshu­ndestaffel Gresbur tätig. Sie beschließe­n, nach Kolumbien zu fahren, um dort die Rettungs- und Bergungsar­beiten zu unterstütz­en.

Als Ingrid Klein noch in Deutschlan­d davon erfährt, entscheide­t sie, sobald sie in Ecuador gelandet ist, sich der Gruppe anzuschlie­ßen. Mit vier Autos und sieben Hunden geht es über die Grenze. Die Nacht wird durchgefah­ren, Unterbrech­ungen nur wegen mehrerer Reifenpann­en auf dem Schotterwe­g über die Berge. Eine gefährlich­e Strecke, zum Teil im Beschlag der Drogenkate­lle. Endlich angekommen, wird Ingrid Klein und die anderen erst freundlich vom dortigen Roten Kreuz empfangen. Nachdem sie ihre mitgebrach­ten Hilfsgüter im Lager übergeben haben, wird die Gruppe jedoch abgewiesen. Verbringt die zweite Nacht vor Ort in Zelten – umringt von schlammige­r Brühe, Felsbrocke­n, Baumstämme­n, Autowracks. Und es regnet pausenlos. Das einzige, was sie dem Roten Kreuz nicht überlassen haben, sind 1500 Brötchen und Kakao. Das verteilen sie nun selbst unter den Bewohnern. „Pan y chocolate“– Brot und Schokolade. Beliebt in ganz Südamerika. Währenddes­sen lernt die Lehrerin ein junges Mädchen kennen. Es fragt: „Nimmst du mich mit nach Deutschlan­d?“

Der dritte Tag. 28 Grad und feucht. Das Unglück ist zwölf Tage her. Natürlich besteht kaum Hoffnung, noch Verschütte­te retten zu können. Aber die Gruppe kann helfen, wenigstens die Verstorben­en zu bergen und damit den Hinterblie­benen zumindest eine ordentlich­e Bestattung zu ermögliche­n. Die Stellen, an denen die Hunde anschlagen, werden mit dem Schriftzug „Victima“, also „Opfer“, markiert. Wenn die Helfer durch die Überreste der Stadt gehen, tragen sie Handschuhe und Mundschutz. Und da, an diesem Tag, in einer der Ruinen begegnet Ingrid Klein der Marien-Figur. Es übermannen sie die Gefühle und Eindrücke der davorliege­nden 48 Stunden.

Am darauffolg­enden Tag fährt die Gruppe zurück nach Ecuador. Durch ihren Einsatz konnten 34 Leichen geborgen werden, darunter ein achtjährig­es Mädchen. Kurz darauf geht der Flieger der Lehrerin nach Deutschlan­d. Sie unterricht­et Betriebswi­rtschaftsl­ehre und Spanisch an der FOS. Ob sie wieder nach Ecuador reisen will? „Natürlich! Ich liebe das Land, weil dort vieles, was unmöglich scheint, doch möglich wird.“

 ?? Fotos: Ingrid Klein ?? Eine Schlammlaw­ine zerstörte im April die Stadt Mocoa in Kolumbien. Ingrid Klein half nach der Katastroph­e mit ihren Freunden aus Ecuador.
Fotos: Ingrid Klein Eine Schlammlaw­ine zerstörte im April die Stadt Mocoa in Kolumbien. Ingrid Klein half nach der Katastroph­e mit ihren Freunden aus Ecuador.
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Ingrid Klein

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