Augsburger Allgemeine (Land West)
Wenn aus dem Urlaub ein Hilfseinsatz wird
Porträt Ingrid Klein wollte in Ecuador Freunde besuchen. Als es im Nachbarland Kolumbien zu einer Natur-Katastrophe kommt, ändern sich die Pläne schlagartig
Und da steht sie plötzlich, in dem Fenster einer der zahllosen Ruinen. Die bunt bemalte Marien-Figur und sie blickt ihr, Ingrid Klein, Lehrerin aus Augsburg, entgegen und dann ist sie sehr ergriffen, am dritten Tag in Mocoa, Südkolumbien. Irgendjemand muss die Figur dort aufgestellt haben, nach der Katastrophe. Um sie herum nichts als Schlamm, Schutt und Schicksale.
Einige Monate zuvor: Die Lehrerin, seit 18 Jahren steht sie in der Augsburger Fachoberschule vor der Tafel, bucht einen Flug nach Ecuador. Sie will dort Freunde besuchen. Von 2008 bis 2011 hatte sie vor Ort in einer deutschen Schule gearbeitet und „dort mein Herz gelassen“. Sie lernte die Sprache, Kultur und Musik lieben. Findet Freunde fürs Leben. Regelmäßig reist sie in das Land, und wenn das auch nur für zwei Wochen ist. Geplant waren in diesem Jahr die Osterferien.
Dann, wenige Tage vor dem Abflug, kommt es im Nachbarland Kolumbien mitten in der Nacht zu einer Tragödie. Nach extremen Regenfällen begräbt eine Schlammlawine die 45 000-Einwohner-Stadt Mocoa unter sich. 300 Tote, mindestens ebenso viel Vermisste. Die Medien berichten von einer der schlimmsten Naturkatastrophen in der Geschichte des Landes. Einige der ecuadorianischen und kolumbianischen Freunde der 50-Jährigen sind für die ehrenamtliche Rettungshundestaffel Gresbur tätig. Sie beschließen, nach Kolumbien zu fahren, um dort die Rettungs- und Bergungsarbeiten zu unterstützen.
Als Ingrid Klein noch in Deutschland davon erfährt, entscheidet sie, sobald sie in Ecuador gelandet ist, sich der Gruppe anzuschließen. Mit vier Autos und sieben Hunden geht es über die Grenze. Die Nacht wird durchgefahren, Unterbrechungen nur wegen mehrerer Reifenpannen auf dem Schotterweg über die Berge. Eine gefährliche Strecke, zum Teil im Beschlag der Drogenkatelle. Endlich angekommen, wird Ingrid Klein und die anderen erst freundlich vom dortigen Roten Kreuz empfangen. Nachdem sie ihre mitgebrachten Hilfsgüter im Lager übergeben haben, wird die Gruppe jedoch abgewiesen. Verbringt die zweite Nacht vor Ort in Zelten – umringt von schlammiger Brühe, Felsbrocken, Baumstämmen, Autowracks. Und es regnet pausenlos. Das einzige, was sie dem Roten Kreuz nicht überlassen haben, sind 1500 Brötchen und Kakao. Das verteilen sie nun selbst unter den Bewohnern. „Pan y chocolate“– Brot und Schokolade. Beliebt in ganz Südamerika. Währenddessen lernt die Lehrerin ein junges Mädchen kennen. Es fragt: „Nimmst du mich mit nach Deutschland?“
Der dritte Tag. 28 Grad und feucht. Das Unglück ist zwölf Tage her. Natürlich besteht kaum Hoffnung, noch Verschüttete retten zu können. Aber die Gruppe kann helfen, wenigstens die Verstorbenen zu bergen und damit den Hinterbliebenen zumindest eine ordentliche Bestattung zu ermöglichen. Die Stellen, an denen die Hunde anschlagen, werden mit dem Schriftzug „Victima“, also „Opfer“, markiert. Wenn die Helfer durch die Überreste der Stadt gehen, tragen sie Handschuhe und Mundschutz. Und da, an diesem Tag, in einer der Ruinen begegnet Ingrid Klein der Marien-Figur. Es übermannen sie die Gefühle und Eindrücke der davorliegenden 48 Stunden.
Am darauffolgenden Tag fährt die Gruppe zurück nach Ecuador. Durch ihren Einsatz konnten 34 Leichen geborgen werden, darunter ein achtjähriges Mädchen. Kurz darauf geht der Flieger der Lehrerin nach Deutschland. Sie unterrichtet Betriebswirtschaftslehre und Spanisch an der FOS. Ob sie wieder nach Ecuador reisen will? „Natürlich! Ich liebe das Land, weil dort vieles, was unmöglich scheint, doch möglich wird.“