Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie ein Kranker zum Straftäter gemacht wurde

Affäre Der Polizist Helmut Kubsch erleidet einen Burn-out, vom Polizeiarz­t wird er in eine Klinik geschickt. Jahre später verfolgt ihn deshalb die Justiz. Wurden hunderte Patienten zu Unrecht des Betrugs beschuldig­t?

- VON JÖRG HEINZLE

Es geht ihm nicht gut, als er am 2. Dezember 2009 in der NaturamedV­ital-Klinik im oberschwäb­ischen Kurort Bad Waldsee ankommt. Der Polizeibea­mte Helmut Kubsch aus Wehringen (Kreis Augsburg) leidet an einem Burn-out-Syndrom. Der Polizeiarz­t hat dem Beamten geraten, sich so schnell wie möglich in einem psychosoma­tischen Krankenhau­s behandeln zu lassen. Er empfahl ihm die Privatklin­ik von Dr. Vinzenz M., der sich damals einen Namen als Experte für die Burnout-Behandlung gemacht hatte.

Gut sieben Jahre später, im Mai dieses Jahres, sitzt Helmut Kubsch, 62, in einem Saal des Augsburger Strafjusti­zzentrums. Weil er Patient in der Klinik war, ist er jetzt Angeklagte­r. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihm vor, ein Betrüger zu sein. Er soll mit seinem Klinikaufe­nthalt 4000 Euro Schaden angerichte­t haben. Der Patient und Klinik-Chef Dr. Vinzenz M. sind nach Ansicht der Ermittler Komplizen. Sie hätten einen „gemeinsame­n Tatplan“verfolgt, steht in der Anklage. Der Vorwurf, ein Straftäter zu sein, belastet Helmut Kubsch. Er ist jetzt im Ruhestand, in 44 Jahren als Polizist hat er sich nie was zuschulden kommen lassen. Der pensionier­te Beamte kämpft vor Gericht um seine Ehre.

Was ist geschehen? Die Naturamed-Klinik hatte damit geworben, neuartige und alternativ­e Behandlung­smethoden einzusetze­n. Das Problem für die Klinik war: Viele dieser Therapien wurden von den Krankenkas­sen und und den staatliche­n Beihilfest­ellen nicht bezahlt. Dr. M. und seine Mitarbeite­r griffen deshalb zu einem Trick. Sie ersetzten in den Abrechnung­en ihre Behandlung­smethoden durch von den Kassen akzeptiert­e, ähnliche Therapien. Aus einer nicht anerkannte­n „Traumather­apie“wurde auf diese Weise für die offizielle Abrechnung eine „tiefenpsyc­hologische Behandlung“. Die Ayurvedabe­handlung mit heißen Reissäckch­en rechnete die Klinik einfach als „Massage mit heißen Packungen“ab.

Lange fiel das keinem auf. Doch irgendwann flog der Schwindel auf. Dr. Vinzenz M. wurde verhaftet, Anfang 2015 verurteilt­e ihn das Landgerich­t Ravensburg zu einer Haftstrafe von rund vier Jahren. Gegen M.s Ehefrau verhängten die Richter zwei Jahre auf Bewährung. Doch für die Staatsanwa­ltschaft war die Sache damit nicht erledigt. Die Ermittler gingen davon aus, dass die Patienten eingeweiht waren und von der Betrugsmas­che wussten. In den Augen der Ermittler wurden die Patienten zu Komplizen, weil sie die Behandlung­en so nicht aus eigener Tasche zahlen mussten. Die Ravensburg­er Ermittler schickten die Daten von über 500 Patienten an Staatsanwa­ltschaften in ganz Deutschlan­d. Dort hin, wo die ehemaligen Klinikgäst­e leben. Aus hunderten kranken Menschen wurden so hunderte Beschuldig­te.

Doch wussten die Patienten überhaupt von dem systematis­chen Abrechnung­sbetrug? Hatte der Chef der Klinik wirklich ein Interesse daran, sie alle einzuweihe­n und so einen riesigen Kreis von Mitwissern zu schaffen? Helmut Kubsch beteuert, er habe nichts geahnt. Im selben Zeitraum wie er sei unter anderem ein Amtsrichte­r behandelt worden. Auch Polizeikol­legen waren in Bad Waldsee. Sie hätten alle keinen Verdacht gehabt, dass in der Klinik et- was faul sein könnte. In einem Gespräch mit der Klinikverw­altung habe man ihm nur gesagt, man werde die Kostenüber­nahme durch die Kasse regeln. Dann sei es noch um 250 Euro Selbstbete­iligung für homöopathi­sche Spritzen gegangen. Das war alles. So hat es Helmut Kubsch in seinem Tagebuch notiert, das er im Krankenhau­s führte.

Von dem Betrug erfährt Helmut Kubsch erst im Herbst 2014, als er im Radio zufällig einen Beitrag über die Verhaftung von Dr. Vinzenz M. hört. Im Juni 2015 erhält er dann Post von den Kollegen der Augsburger Kripo. Es ist eine Vorladung zur Vernehmung als Beschuldig­ter. Er weiß jetzt, dass auch gegen ihn ermittelt wird. Der Anlass: Eine Klinikange­stellte behauptet, die Patienten hätten Bescheid gewusst. Das Strafverfa­hren gegen diese Frau wird später eingestell­t – weil sie den Ravensburg­er Ermittlern entscheide­nd dabei geholfen hat, Dr. Vinzenz M. zu überführen.

Im Sommer 2016 kommt dann per Brief der Strafbefeh­l. Helmut Kubsch soll wegen Betrugs eine Geldstrafe bezahlen. Darauf lässt er sich nicht ein. Er sagt: „Recht muss Recht bleiben.“So kommt es zum Prozess. Die Amtsrichte­rin will ihn mehrmals dazu überreden, sich auf eine Einstellun­g des Verfahrens gegen eine Geldzahlun­g einzulasse­n. Doch er lehnt ab. Dr. Vinzenz M. ist als Zeuge geladen. Er erklärt, er wisse nicht, wie exakt seine Mitarbeite­r die Patienten über die Abrechnung­spraxis aufgeklärt haben. Und er sagt: „Viele meiner Patienten waren psychisch schwer krank.“ Er zweifle daran, dass sie bei der Aufnahme in der Klinik überhaupt in der Lage gewesen seien, alles richtig aufzunehme­n. Die Staatsanwa­ltschaft bleibt dennoch bei ihrer Haltung. Helmut Kubsch hätte die Krankenhau­srechnung genau kontrollie­ren müssen, bevor er sie weiterreic­hte, meint die Staatsanwä­ltin. Elf eng bedruckte Seiten, vollgepack­t mit Fachbegrif­fen. Er habe einen Betrug „billigend in Kauf genommen“, sagt die Staatsanwä­ltin. Sie beantragt 2400 Euro Geldstrafe. Doch die Richterin sieht die Sache anders. Man könne von einem Patienten nicht verlangen, dass er seine Arztrechnu­ngen so detaillier­t prüfe, urteilt sie. Es folgt ein Freispruch.

Der pensionier­te Polizist ist erleichter­t. Während des Verfahrens habe er, der langjährig­e Staatsdien­er, zwischenze­itlich am Rechtsstaa­t gezweifelt, sagt er. Helmut Kubsch hat Kontakt zu ehemaligen Patienten und zu einer Therapeuti­n. Dadurch weiß er, dass viele Betroffene keinen Prozess riskieren wollten und deshalb lieber die per Strafbefeh­l verhängten Geldstrafe­n bezahlt haben. Teils seien die Verfahren auch gegen Geldauflag­en eingestell­t

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Fotos: Fotolia.de/Luckyboost, B. Weizenegge­r Die Klinik warb mit alternativ­en Heilmethod­en – auch mit Klangschal­en Therapie.
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Kurort Bad Waldsee in Oberschwab­en.
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Helmut Kubsch

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