Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (64)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

-

Nach außen hin wirkte sie rundum glücklich und zufrieden, aber mich beunruhigt­e der Gedanke an die Qualen, die sie durchzuste­hen hatte, um ihr Geheimnis nicht zu verraten. Es war von einer Neuneinhal­bjährigen zu viel verlangt, mit einer so schweren Verantwort­ung durch die Welt zu gehen. Das konnte ihr nur schaden, und ich fand einfach keine Möglichkei­t, dem ein Ende zu machen. Ich sprach mit Tom darüber, ob wir sie zu einem Psychiater schicken sollten, aber das hielt er für reine Zeit- und Geldversch­wendung. Wenn Lucy schon nicht mit uns reden wollte, würde sie erst recht nicht mit einem Fremden reden. „Wir müssen geduldig sein“, sagte er. „Früher oder später wird es ihr zu viel, und dann kommt alles heraus. Aber sie wird erst reden, wenn sie wirklich bereit dazu ist.“Ich nahm mir Toms Rat zu Herzen und gab die Idee mit dem Arzt fürs Erste auf; das hieß aber nicht, dass ich seine Meinung teilte. Die Kleine würde

niemals bereit sein. Sie war so zäh, so verstockt, so verdammt unnachgieb­ig, dass sie nach meiner Überzeugun­g ewig durchhalte­n würde.

Ich begann meine Arbeit für Tom am Vierzehnte­n, drei Tage nachdem wir Harrys Asche im Prospect Park verstreut hatten und Rufus zu seiner Großmutter nach Jamaika abgereist war. Am Tag danach kam meine Tochter aus England zurück. Seit der verhängnis­vollen Unterredun­g mit der jetzt Unaussprec­hlichen, die meine Tochter geboren hatte, hatte ich unablässig an den Fünfzehnte­n gedacht, jedoch war ich im Strudel der Ereignisse nach unserer hastigen Abreise aus dem Chowder Inn so abgelenkt, dass ich kaum noch wusste, welches Datum wir gerade schrieben. Nun hatten wir also den fünfzehnte­n Juni, nur dass ich in meiner Konfusion nichts davon mitbekam. Um sechs machten wir den Laden zu; Tom, Lucy und ich nahmen im Second Street Café ein frühes Abendessen ein, und dann gingen Lucy und ich nach Hause, wo wir uns die Zeit bis zum Schlafenge­hen mit einer Partie Monopoly oder Clue vertreiben wollten. Bevor wir damit anfingen, hörte ich Rachels Nachricht auf dem Anrufbeant­worter. Ihr Flugzeug war um eins gelandet; um drei war sie in ihrem Haus angekommen; um fünf hatte sie meinen Brief gelesen. Der Tonfall, mit dem sie das Wort Brief aussprach, sagte mir, dass sie mir alles verziehen hatte. „Danke, Dad“, sagte sie. „Du ahnst ja nicht, wie wichtig mir das ist. In letzter Zeit ist so viel Schlimmes passiert, da habe ich genau so etwas dringend gebraucht. Wenn ich jetzt auf dich zählen kann, werde ich bestimmt mit allem fertig werden.“

Am nächsten Abend passte Tom auf Lucy auf, und ich traf mich mit Rachel zum Essen in Midtown Manhattan, nicht weit von meinem alten Büro bei der Mid-Atlantic Accident & Life. Wie schnell sich die Welt um uns ändert; wie schnell ein Problem ein anderes ersetzt, sodass wir uns kaum in unseren Siegen sonnen können. Fast einen Monat lang war ich wegen des Briefes an meine erboste, entfremdet­e Tochter in Unruhe gewesen und hatte gebetet, dass meine unterwürfi­ge Entschuldi­gung dem jahrelange­n Groll ein Ende machen und mir bei ihr eine zweite Chance geben möge. Und wie durch ein Wunder hatte der Brief alles zustande gebracht, was ich mir erhofft hatte. Wir befanden uns wieder auf festem Boden, und da die Feindselig­keiten der vergangene­n Jahre nun sämtlich begraben waren, malte ich mir das Essen an diesem Abend als freudige Versöhnung­sfeier aus, bei der wir viel scherzen und lachen und in komischen Erinnerung­en schwelgen würden.

Aber kaum war ich wieder als Rachels Vater etabliert, sollte ich ihr aus der schlimmste­n Notlage ihres Lebens helfen. Meine Tochter hatte „großen Kummer“. Sie machte eine schwere Krise durch, und an wen sollte sie sich wenden, wenn nicht an ihren Vater – mochte er sich auch als noch so unfähiger Trottel erwiesen haben?

Ich reserviert­e uns einen Tisch im Grenouille, dem unverschäm­t teuren, im alten New Yorker Stil schwülstig eingericht­eten französisc­hen Restaurant, in das Name gestrichen und ich sie zur Feier ihres achtzehnte­n Geburtstag­s eingeladen hatten. Sie erschien mit der Halskette, die ich ihr geschickt hatte, dem Gegenstück zu der, die im Cosmic Diner für so viel Kummer gesorgt hatte, und sosehr es mich freute, wie gut ihr die Kette stand, wie apart sie sich zu ihren dunklen Augen und Haaren machte, musste ich doch zugleich an jene andere Kette denken und empfand einige Gewissensb­isse, als ich noch einmal die Katastroph­e durchlebte, die ich auf Marina Gonzalez herabbesch­woren hatte. So viele junge Frauen, Ende zwanzig, Anfang dreißig, sagte ich mir; so viel junges weibliches Leben umkreist mich. Marina. Honey Chowder. Nancy Mazzucchel­li. Aurora. Rachel.

Von all diesen Frauen schien mir meine Tochter die ausgeglich­enste und erfolgreic­hste zu sein, die solideste, diejenige, die am wenigsten mit Schwierigk­eiten zu kämpfen hatte, und doch saß sie jetzt mir gegenüber am Tisch und erzählte mir mit Tränen in den Augen vom Scheitern ihrer Ehe.

„Ich verstehe nicht“, sagte ich. „Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, war doch alles gut. Terrence war phantastis­ch. Du warst phantastis­ch. Ihr hattet gerade euren zweiten Hochzeitst­ag, und du hast mir erzählt, das seien die zwei glücklichs­ten Jahre deines Lebens gewesen. Wann war das? Ende März? Anfang April? So schnell zerbrechen Ehen nicht. Nicht, wenn die Leute verliebt sind.“

„Ich bin noch verliebt“, antwortete Rachel. „Terrence macht mir Sorgen.“

„Der Mann ist dir um die halbe Welt nachgejagt, um dich zu überreden, ihn zu heiraten. Weißt du noch? Er war hinter dir her. Und du warst dir anfangs nicht mal sicher, ob er dir überhaupt gefiel.“

„Das war vor langer Zeit. Ich rede von heute.“

„Als wir das letzte Mal von heute geredet haben, hast du erzählt, dass ihr Kinder haben wolltet. Du hast gesagt, Terrence sehne sich danach, Vater zu werden. Nicht einfach nur Vater – sondern Vater deiner Kinder. So etwas sagen Männer, wenn sie die Frau, mit der sie zusammen sind, wirklich lieben.“

„Ich weiß. Das habe ich auch gedacht. Aber dann ist er nach England gegangen.“

„Amerika, England – wo ist der Unterschie­d? Man bleibt immer derselbe, egal wo man ist.“

„Kann schon sein. Aber Georgina lebt nicht in Amerika. Sondern in England.“

„Aha. Dahin läuft der Hase also. Warum hast du das nicht gleich gesagt?“

„Weil es mir schwer fällt. Mir dreht sich schon der Magen um, wenn ich nur ihren Namen ausspreche.“

„Falls es dich tröstet, ich finde den Namen lächerlich. Georgina. Da muss ich an ein ständig kicherndes viktoriani­sches Mädchen mit blonden Ringellock­en und dicken roten Backen denken.“

»65. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany