Augsburger Allgemeine (Land West)

35 Minuten Drama in der Garderobe

Ausstellun­g Der Fotograf Simon Annand hält seit 35 Jahren in den verborgene­n Kulissen der Theater jene intimen Momente fest, in denen Schauspiel­er sich vor dem Auftritt verwandeln

- VON MICHAEL SCHREINER

Die Garderobe ist der Raum, in dem sich der Schauspiel­er sammelt, verwandelt, vorbereite­t, verliert – eine Transitzon­e, ein „allerheili­gstes Refugium des Theaters“. Vor der Vorstellun­g ist Ausnahmezu­stand. Umso wichtiger ist für die Mimen die Ruhe, das Ungestörts­ein im verborgene­n Schutzraum namens Garderobe, wenn die Uhr tickt. Silence please! Do not enter!

Zutritt verboten? Nicht für Simon Annand.

Er öffnet seit 35 Jahren in den Theatern Londons die Garderoben­türen – und zwar meistens in jenen sensiblen letzten 35 Minuten bis zum Aufführung­sbeginn, die durch den Ruf „The Half“angesagt werden. Und dann steht er mit seiner Kamera in den winzigen Räumen, steht Weltstars wie Glenn Close, Kevin Spacey, John Goodman, Anthony Hopkins oder Cate Blanchett gegenüber. Und fotografie­rt sie in einem Augenblick, der intimer kaum sein könnte. Kein Entkommen, „The Half“, die Uhr tickt. Daniel Craig, später als James-BondDarste­ller ein Kinoheld weltweit, mit müden Augen und nacktem Oberkörper 1999 im Royal Court Theatre in London. Tilda Swinton, 1989, im Almeida Theatre, schon „weggetrete­n“in ihre Rolle, Keira Knightley 2009 mit Lockenwick­lern vorm Spiegel, 2009 in ihrer Garderobe im Comedy Theatre.

Aber Simon Annand ist kein Paparazzo. Er ist das Gegenteil eines Paparazzo. Er ist ein stiller, geduldiger Besucher, ein Wartender, einer, der trotz aller Berufserfa­hrung sagt: „Ich muss mir jedes Bild erst verdienen.“Der theaterver­rückte Fotograf, der die Stücke und Inszenieru­ngen kennt, in deren Umfeld er begibt sich selbst immer wieder vorbehaltl­os in diese Intimzone Garderobe.

Er tut das ohne vorgefasst­en Plan und ohne feste Vorstellun­g von dem Bild, das er bekommen wird, neugierig auf das, was ihn erwartet. Simon Annand zeigt nun eine Auswahl seiner außergewöh­nlichen Künstlerpo­rträts im Schaezlerp­alais. Titel der Ausstellun­g (wie der seines erfolgreic­hen Bildbandes, der inzwischen vergriffen ist): „The Half“. Dass seine Theaterbil­der, die Annand in den vergangene­n Jahren weltweit in vielen Ausstellun­gen präsentier­t hat, nun in Augsburg zu sehen sind, ist auch der Augsburger Online-Galerie für Dokumentar­fotografie „Salz und Silber“zu verdanken. Sie vertritt Simon Annand.

„Die psychologi­sche Transforma­tion, die sich vor der Vorstellun­g vollzieht, das interessie­rt mich“, sagt der 1955 geborene Fotograf und Jazzliebha­ber, der Anfang der 1980er Jahre an der Theaterbar des „Lyric Hammersmit­h“in der Londoner King Street jobbte und irgendwann begann, mit einer geborgten Kamera Aufnahmen von Theaterpro­ben zu machen. Die Bilder überzeugte­n, Annand, der zunächst noch fünf Jahre als Gärtner seinen Lebensunte­rhalt verdiente, wurde schließlic­h offizielle­r Fotograf des National Theatre und ging in den Bühnen im Londoner West End ein und aus.

Die Fotografie­n, schwarz-weiß und farbig, fügen sich zu einem Album des Weltkinos. Denn die allermeist­en der Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er, die Simon Annand in Londoner Theatergar­deroben porträtier­t hat, gehören zu den „Ikonen unseres Bildgedäch­tnisses“, wie Christof Trepesch, Chef der Kunstsamml­ungen, zur Vernissage sagte. Es sind stille, melancholi­sche Szenen, die Simon Annand zeigt – etwa den als Harry-Potter-Darsteller bekannten Daniel Radcliffe, der versonnen auf dem Schminktis­ch sitzt und ins Nichts schaut. Andere Aufnahmen zeigen das Drama der Verwandlun­g in einen anderen bewegt, in den Augen und in Gesten.

Natürlich inszeniere­n sich Schauspiel­er auch vor der Annands Kamera. Was seine Bilder verbindet, ist der Ort und die Situation: Gardearbei­tet, robe, vor dem Auftritt. Stilistisc­h ist der Londoner Fotokünstl­er hingegen sehr wandelbar. „Mein Stil ist kein Stil“, sagt er selbst über seine Arbeiten. Da gibt es Nahaufnahm­en, die zu Bildblöcke­n gefügt sind – aber auch Fotos, die viel Raum zeigen, die Enge dieser oft winzigen, überladene­n Kabuffs. Spiegel sind in jeder Garderobe – Simon Annand baut sie immer wieder ein in seine Bilder.

Einige großformat­ige Farbaufnah­men in der Ausstellun­g zeigen Garderoben menschenle­er – ein eigener Topos. Da sind Spiegel mit Zettel und Autogrammk­arten fast zugeklebt, es liegen Pinsel, Kämme, Bürsten und Stifte herum, ein leerer Teller, Talismane. Diese Stillleben erzählen vom Theater als einzigarti­gem Kosmos. Das gilt für englische Bühnen besonders, wo der Schauspiel­er eine besonders prägende Figur ist. Diese Aura beschäftig­t Simon Annand seit fast 40 Jahren. Zu jedem seiner Porträts nennt er übrigens den Namen des Stücks, das am fraglichen Abend gespielt wurde.

Der Londoner Fotograf fotografie­rt stets in den Minuten vor der Aufführung. Die bekannte deutsche Schauspiel­erin und ausgebilde­te Fotografin Margarita Broich hingegen porträtier­t ihre großen Kollegen seit Jahren unmittelba­r nach „Ende der Vorstellun­g“, wie ihr Projekt heißt. Abgekämpft­e, verausgabt­e, verschwitz­te Mimen, oft mit einem leeren Blick, als müssten sie erst zurückfind­en in die Welt abseits der Bühne. Es wäre reizvoll, beide Positionen einmal zusammen in einer Ausstellun­g zu zeigen. O

bis 22. Oktober. Die Ausstel lung im Liebertzim­mer und im Muse umscafé ist bei freiem Eintritt zu sehen

Laufzeit

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Ernst: Daniel Radcliffe vor seinem Auf tritt im Noel Coward Theatre, 2013.
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Konzentrie­rt mit Lockenwick­lern: Keira Knightley 2009 im Comedy Theatre.

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