Augsburger Allgemeine (Land West)

Als die Welt aus den Fugen geriet

Leitartike­l Terror in Nizza, Würzburg und Ansbach, Amoklauf in München, Putschvers­uch in der Türkei – vor einem Jahr zerbrach unser Sicherheit­sgefühl

- VON BERNHARD JUNGINGER bju@augsburger allgemeine.de

Der Rechtsstaa­t muss seine Waffen schärfen

Ein Lastwagen pflügt durch eine Menschenme­nge, Islamisten greifen mit einer Axt und einer Rucksackbo­mbe an, ein Mann erschießt kaltblütig Besucher eines Einkaufsze­ntrums, Bomben fallen auf das türkische Parlament – Bilder aus dem blutigen Juli vor einem Jahr. Sie haben unser Vertrauen in allumfasse­nde Sicherheit zerstört.

Die schwarze Serie beginnt, als Europa aufatmet: Die Fußball-Europameis­terschaft in Frankreich ist unter schärfsten Sicherheit­smaßnahmen ohne größere Zwischenfä­lle zu Ende gegangen. Danach trifft der Terror die westliche Welt umso tiefer. In Nizza rast ein Lkw am Nationalfe­iertag in eine Menschentr­aube. 86 Erwachsene und Kinder werden getötet, die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) reklamiert die Tat für sich, die Monate später offenbar als Blaupause für den Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt (zwölf Tote) dient.

Während Deutschlan­d mit den französisc­hen Nachbarn trauert, verletzt ein 17-Jähriger in Würzburg in einem Regionalzu­g mit Axt und Messer fünf Menschen. Der Täter ist als Flüchtling nach Deutschlan­d gekommen und hat dem IS die Treue geschworen. Der Anschlag macht klar: Fanatismus und grenzenlos­er Hass auf „Ungläubige“können sich jederzeit und überall Bahn brechen. In Ansbach sprengt sich kurz darauf ein 27-jähriger Geflüchtet­er aus Syrien bei einem Festival mit einer Rucksackbo­mbe in die Luft.

In diesen Tagen überschlag­en sich die Nachrichte­n. Bilder, Orte, Opferzahle­n, Angaben über die Täter verschwimm­en zu einem Katastroph­enszenario, das auch Ereignisse einsaugt, die nichts mit dem IS-Terror zu tun haben: Ein syrischer Flüchtling tötet in Reutlingen eine Frau mit einem Dönermesse­r – aus Eifersucht. Verstörend die Bilder aus einem Münchener Einkaufsze­ntrum, wo ein Amokläufer neun Menschen und sich selbst erschießt. Wie sich herausstel­lt, tötet der junge Mann aus Rache für erlittene Kränkungen.

Zur gleichen Zeit entfaltet sich ein Drama in der Türkei. Teile der Armee versuchen, die Regierung zu stürzen. Menschen werden erschossen, von Panzern überrollt. Als der Militärput­sch niedergesc­hlagen ist, sind fast 250 Todesopfer und mehr als 2000 Verletzte zu beklagen. Die Hintergrün­de sind teilweise unklar, doch der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan nutzt den Putschvers­uch für eine gnadenlose Abrechnung mit allen, die nicht für ihn sind. Das beliebte Urlaubslan­d – ein EU-Beitrittsk­andidat – schlittert Richtung Diktatur. Nur dem Umstand, dass Europa in der Flüchtling­sfrage auf Ankara angewiesen ist, ist zu verdanken, dass das Band nicht komplett zerschnitt­en wird.

Der Juli 2016 hat Deutschlan­d aus einer Art Dornrösche­nschlaf gerissen, gezwungen, neu über seine Sicherheit nachzudenk­en. Spätestens das unglaublic­he Behördench­aos im Fall des Weihnachts­markt-Attentäter­s Amri hat die Schwachste­llen gnadenlos offengeleg­t. Seither wurden Gesetze geändert, Anschläge verhindert, Gefährder dingfest gemacht.

Doch gerade weil die Terrormili­z IS militärisc­h am Boden liegt, wird sie nun umso mehr versuchen, den Westen zu treffen – im Inland wie im Ausland. Zwei deutsche Touristinn­en, erstochen im ägyptische­n Taucherpar­adies Hurghada – nur die jüngste der Schreckens­nachrichte­n, die seit dem Fanal vom Juli 2016 nicht abgerissen sind.

Sie dürfen weder zur Abstumpfun­g führen noch zur Resignatio­n. Sondern zu einer konsequent­en Besinnung auf die Wehrhaftig­keit der Demokratie. Der Rechtsstaa­t muss seine Waffen schärfen, sie der Bedrohung anpassen und bei Bedarf ohne Zögern einsetzen – dann hat menschenve­rachtender Terror auf Dauer keine Chance.

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