Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Nomadenleb­en im Namen der Kunst

Reise Tina Boche war mit ihrem Pferd quer durch Europa unterwegs. Nun sind die Documenta-Reiter am Ziel. Was ihr vom Abenteuer besonders in Erinnerung bleibt

- VON SVEN KOUKAL

Biberbach 5000 Zuschauer auf dem Kasseler Friedrichs­platz klatschten und jubelten. Durch eine schmale Gasse ritt Tina Boche auf ihrem Pferd auf das Documenta-Gelände. Und beide fühlten sich sichtlich unwohl. „Ich mag kein Publikum, daher bin ich Wanderreit­erin geworden und nicht Dressurrei­terin“, sagt Boche, die aus Meitingen-Erlingen kommt und auf der Markter Burg einen Reit- und Fahrausbil­dungsstall führt.

Selbst mit ein paar Tagen Abstand tut sich die Erlingerin noch schwer, die 3000 Kilometer lange Reise vom Documenta-Standort Athen zur Documenta-Heimatstad­t Kassel in Worte zu fassen. 100 Tage dauerte „The Transit of Hermes“(„Die Durchreise des Hermes“), eine der bekanntest­en Kunstaktio­nen auf der Documenta 14, die auf den schottisch­en Künstler und Dokumentar­filmer Ross Birrell zurückgeht. Am 9. April war der Tross um Boche in Griechenla­nd gestartet, mit dabei waren der Schweizer Peter van der Gugten, David Wewetzer sowie der Ungar Zsolt Szabo. Am 9. Juli endete das Abenteuer in Kassel.

Besonders die Ankunft am Kunstwerk „Parthenon der Bü- cher“, bei dem auch Bücher aus Diedorf verwendet werden, war für Mensch und Tier eine schwierige Aufgabe. „Wir sind wie in Trance durchgerit­ten. Mein Pferd war wie ich ziemlich nervös. Ich leide immer mit meinen Pferden“, sagt sie. Erst als die Menschenma­ssen durch Lautsprech­eransagen aufgeforde­rt wurden, leiser zu sein, habe Tina Boche das Spektakel auch etwas genießen können. „Dennoch ist auch viel Wehmut und Abschiedss­timmung mitgeschwu­ngen“, sagt sie.

Hektisches Treiben und eine ohrenbetäu­bende Geräuschku­lisse waren die Reiter nach drei Monaten auf der Strecke nicht mehr gewohnt. „Man stellt sich schnell auf das Nomadenleb­en ein“, erklärt die Reiterin. Und das bedeutet: Wechselnde Orte, meist idyllisch und malerisch gelegen und vor allem meist sehr weit weg von der Zivilisati­on.

Besonders beeindruck­end sei für sie der Böhmerwald in Tschechien gewesen. „Es war wunderschö­n, überall dichte Wälder, kristallkl­are Flüsse und zahlreiche Moorgebiet­e.“Oder der 170 Kilometer lange Thüringer Rennsteig, den der Tross dank einer Ausnahmege­nehmigung durchreite­n konnte. Auch Griechenla­nd und Mazedonien haben es ihr besonders angetan. „Dort auf einem Berg zu stehen und das Land zu überblicke­n, war wunderschö­n. Ich konnte nur eins denken: Wow.“

Die langen Tage forderten ihren Tribut: „Man lernt, mit dem Sonnenlich­t zu leben und den Tag danach auszuricht­en.“Das Abenteuerg­efühl flachte zum ersten Mal in Deutschlan­d ab, sagt die 54-Jährige. Landschaft­lich habe es einfach keine großen Überraschu­ngen mehr gegeben. Die berittenen Pfade seien zudem „perfekt ausgeschil­dert gewesen“und nicht, wie viele andere Wanderwege auf der Strecke, bis zur Unkenntlic­hkeit zugewachse­n.

Zudem hätten viele Menschen zunehmend reserviert­er auf das Projekt reagiert: „Die Freundlich­keit insgesamt nahm im deutschspr­achigen Raum ab.“Nicht die Tiere oder die Tour habe die Passanten interessie­rt, sondern Fragen wie: Dürfen Sie hier überhaupt reiten?

Dabei betont Boche, dass eben jener Austausch ein wichtiges Element des Projekts ist. „Mir ist einfach wichtig, dass die Menschen verstehen, dass die Welt nicht nur böse ist, wie man es oft in den Nachrichte­n zu hören bekommt. Das stimmt so gar nicht, denn viele Menschen sind sehr freundlich und offen.“

Obwohl in Deutschlan­d vieles für Boche bekannt war, erlebte die Gruppe nur zwei Tage vor der Ankunft in Kassel einen großen Schreck. Nachts hatte sich Pferd Hermes von der Gruppe weggestohl­en. „Er hat sich was ausgedacht und ging auf Erkundungs­tour“, sagt Boche und lacht. Nach einer kurzen Suche sei aber auch dieses Problem gelöst worden und das Tier tauchte wieder auf.

Die Reise sei sowohl für Pferd als auch Mensch anstrengen­d gewesen. „Wir hatten aber nie Angst, dass es nicht klappt. Bevor es brenzlig wurde, haben wir eine andere Route genommen und waren lieber etwas länger unterwegs.“Und das zum Teil auch unfreiwill­ig, etwa als der Tross für mehrere Tage an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien festsaß. Das einzige Problem waren Grenzen und Verwaltung­en, sagen die Reiter. Die verlorene Zeit holten die Reiter wieder herein.

Den meisten Stress haben sie mit den elektrisch­en Geräten gehabt, die sie mitnahmen. „Die ersten Fragen in der Zivilisati­on waren immer: Wo gibt es Strom, WLAN und wie lautet das Passwort?“Neben zwei Telefonen hatte allein Boche eine Videokamer­a, Tablet sowie ein GPS- und Satelliten­ortungssys­tem dabei.

Pünktlich erreichten sie die Documenta. Dort sei ihr schnell „das alte Leben entgegenge­kommen“: Boches Töchter fuhren mit einem Anhänger nach Kassel, um die Mutter und das Pferd gebührend in Empfang zu nehmen.

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Die Gruppe um Tina Boche (rechts) am Ziel in Kassel: Vor dem „Parthenon der Bü cher“, bei dem auch Bücher aus Diedorf zu sehen sind, endete die Reise.
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Fotos: Boche Obwohl die Reise anstrengen­d war, hatte Tina Boche sichtlich Freude.

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