Augsburger Allgemeine (Land West)

Im Wahlkampf findet die Flüchtling­skrise kaum statt

Leitartike­l Die Union will das Thema raushalten, auch die SPD hat kein Interesse an einer gründliche­n Debatte. Die offenen Fragen einer künftigen Einwanderu­ngspolitik

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Kein Thema hat die Deutschen in den vergangene­n Jahren so sehr umgetriebe­n wie die Flüchtling­skrise. Die Integratio­n von weit über einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkrei­s wird das Land noch lange in Atem halten und die Sozialsyst­eme auf eine harte Belastungs­probe stellen. Der große Ansturm ist vorüber. Aber die nächste Migrations­krise ist schon in Sicht, weil sich nun verstärkt Afrikaner auf die Suche nach einem besseren Leben in Europa begeben. Die Außengrenz­en der EU sind weiter offen; das zerstritte­ne Europa wirkt überforder­t. Die Flüchtling­skrise ist nicht zu Ende, und Deutschlan­d, das Sehnsuchts­ziel so vieler vor Armut und Not fliehender Menschen, steht vor einer anhaltend großen Herausford­erung. Wie es Deutschlan­d künftig halten will mit der massiven Zuwanderun­g, wie es sein „weites Herz und seine begrenzten Möglichkei­ten“(Gauck) miteinande­r in Einklang bringen kann, das ist die dringlichs­te Zukunftsau­fgabe von Politik und Gesellscha­ft.

Umso erstaunlic­her ist, dass darüber im Bundestags­wahlkampf kaum geredet wird. Zwar spielt die innere Sicherheit, die ja mit (teils importiert­en) terroristi­schen Risiken und einer infolge der Zuwanderun­g gestiegene­n Kriminalit­ät zu tun hat, eine wichtige Rolle. Aber wo bleibt der große Diskurs der Parteien darüber, wohin die Reise gehen soll und unter welchen Bedingunge­n Deutschlan­d tatsächlic­h „so bleibt, wie es ist“(Angela Merkel)? So entspannt ist die Lage ja nicht, als dass dieses Thema an den Rand gedrängt werden dürfte. Monat für Monat reisen rund 15 000 Schutzsuch­ende ein. Das ist viel weniger als 2015 und 2016, als 1,2 Millionen Asylbewerb­er registrier­t wurden. Aber es ist noch immer eine hohe Zahl. Rechnet man die Einwandere­r aus der EU hinzu, so hat Deutschlan­d seit 2012 über drei Millionen Ausländer aufgenomme­n. Allein die Versorgung der Flüchtling­e, die zunächst überwiegen­d im sozialen Netz landen und die die schon hohe Ausländer-Arbeitslos­igkeit stark anwachsen lassen, kostet bis zu 25 Milliarden Euro pro Jahr.

Es mag sein, dass die meisten eines Tages einen Job finden. Und natürlich muss Deutschlan­d Kriegsflüc­htlingen Zuflucht bieten und Verfolgten Asyl gewähren. Doch wie will es die Politik schaffen, die illegale Zuwanderun­g dauerhaft zu begrenzen und die Kontrolle darüber zu gewinnen, wer Aufnahme findet? Wie lange will man noch hinnehmen, dass das Asylrecht zum Einwanderu­ngsrecht geworden ist? Was fordern wir von den Zuwanderer­n? Hat die magnetisch­e Wirkung Deutschlan­ds auch mit den Sozialleis­tungen zu tun? Was passiert in einer Gesellscha­ft, deren Bevölkerun­gsstruktur sich so rasch verändert? Wird sie „gewaltaffi­ner, machohafte­r, antisemiti­scher“, wie der CDU-Spitzenpol­itiker Spahn befürchtet? Über all diese Fragen und viele andere mehr lohnte eine gründliche demokratis­che Debatte. Und die Bürger wüssten endlich gern, welche Gesamtkonz­epte die Politik jenseits ihres Krisenmana­gements hat.

Am linken und rechten Rand des Parteiensp­ektrums ist die Sache klar. Die Linksparte­i will „offene Grenzen für alle“, die AfD totale Abschottun­g. Beides ist unverantwo­rtlicher Unfug. Die Grünen sind für Begrenzung, doch gegen eine strikte, mit Härte verbundene Steuerung. Bei den letztlich entscheide­nden Volksparte­ien weiß man nicht so genau, woran man ist. Die Union will das Thema aus dem Wahlkampf raushalten und so den Sinkflug der AfD beschleuni­gen. Die SPD, die Merkels Flüchtling­spolitik mitgetrage­n hat, will jetzt ebenfalls keine Debatte über die Leitplanke­n der Einwanderu­ngspolitik. So kommt es, dass ein großes politische­s Thema vor dem Wahltag zur Fußnote gerät.

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