Augsburger Allgemeine (Land West)

Gewalt gegen Kinder: Polizei zählt mehr Opfer

Sicherheit Die Zahl der Mädchen und Buben, die Opfer einer Körperverl­etzung geworden sind, ist um 30 Prozent gestiegen. Warum Experten deshalb aber noch nicht Alarm schlagen – und wo sich ein neues Dunkelfeld aufgetan hat

- VON JÖRG HEINZLE

Der kleine Jeremy schwebte in Lebensgefa­hr, als ihn Mitarbeite­r des Jugendamte­s aus der Wohnung im Bärenkelle­r holten und dafür sorgten, dass er in eine Kinderklin­ik kam. Er wog mit acht Monaten nur 3,9 Kilo. Laut Weltgesund­heitsorgan­isation ist das eine Unterernäh­rung des schwersten Grades. Die 29-jährige Mutter hatte das Baby massiv vernachläs­sigt. Voriges Jahr wurde sie wegen versuchten Totschlags zu einer siebenjähr­igen Haftstrafe verurteilt.

Dass Kinder in Augsburg durch Gewalt oder Vernachläs­sigung sterben, ist zum Glück die absolute Ausnahme. Es blieb in der Vergangenh­eit bei Einzelfäll­en und es gibt auch Jahre, in denen kein Kind auf diese Weise ums Leben kommt. Körperlich­e Gewalt erleben Kinder dagegen deutlich öfter. Voriges Jahr zählte die Polizei 117 Opfer von einfachen Körperverl­etzungen, die jünger waren als 14 Jahre. 51 Kinder wurden der Statistik zufolge Opfer einer gefährlich­en Körperverl­etzung. Und der Trend war zuletzt negativ: Im Vergleich der Jahre 2015 und 2016 ist die Zahl der Gewaltopfe­r im Kindesalte­r um rund 30 Prozent gestie- gen. Werden Kinder also immer öfter zur Zielscheib­e von Gewalt?

Sabine Rochel, die Opferschut­zbeauftrag­te des Polizeiprä­sidiums, warnt vor solchen schnellen Schlüssen. Schwankung­en bei den Fallzahlen von einem Jahr zum anderen seien üblich, sagt sie. Die Hauptkommi­ssarin geht nicht davon aus, dass die Gewalt gegenüber Kindern derzeit dramatisch zunimmt. Im Alltag erlebt sie vielmehr, dass die Hemmschwel­le gesunken ist, sich bei einem Verdacht Hilfe zu holen und auch die Polizei einzuschal­ten. „Früher war dieses Thema noch viel stärker mit Tabus besetzt als heute“, sagt Sabine Rochel. Zahlreiche Fälle, die heute in der Statistik auftauchen, seien da wohl im Dunkelfeld geblieben und deshalb auch nie von der Justiz verfolgt worden.

Dass die Aufklärung­sarbeit wirkt und heute mehr Straftaten an Kindern aufgedeckt werden als früher – davon ist auch der Sozialpäda­goge Franz Wagner überzeugt. Er arbeitet in der Anlaufstel­le des Augsburger Kinderschu­tzbundes. Wagner und eine Kollegin kümmern sich hier jedes Jahr um rund 300 Fälle, in denen Kinder zu Opfern geworden sind – oder es zumindest werden könnten, wenn nichts geschieht. In je einem Viertel der Fälle geht es um sexuellen Missbrauch und um Misshandlu­ngen. In rund der Hälfte der Fälle sind die Kinder zwar nicht direkt von Gewalt betroffen, aber sie leiden unter familiären Krisen.

Die allermeist­en Übergriffe spielen sich in der Familie oder im direkten sozialen Umfeld des Kindes ab. „Die Täter sind meist Verwandte und Bekannte“, sagt Franz Wagner. „Oder sie haben über Vereine, Verbände oder kirchliche Institutio­nen Kontakt zu den Kindern.“Der von vielen Eltern so sehr gefürchtet­e „böse Mann“, der Kindern auflauere und ihnen etwas antue, sei die absolute Ausnahme.

Eben weil sich Täter und Opfer meist gut kennen, ist die Scheu, zur Polizei zu gehen, trotz aller Aufklärung­sarbeit durch Polizei und Opferschut­zverbände wohl noch immer groß. Zwar schauen etwa Erzieher, Ärzte oder auch Nachbarn heute in vielen Fällen genauer hin. Hauptkommi­ssarin Sabine Rochel ist aber dennoch überzeugt: „Man muss leider davon ausgehen, dass es nach wie vor eine sehr große Dunetwa kelziffer gibt.“Deshalb ist auch der aktuelle Rückgang bei den Opfern von Kindesmiss­brauch in Augsburg – die Zahl sank zwischen 2015 und 2016 um fast 50 Prozent – keine Garantie, dass es wirklich deutlich weniger sexuelle Übergriffe gab.

Zumal sich ein neues Dunkelfeld aufgetan hat, in das die Polizei so gut wie keinen Einblick hat. Experten gehen davon aus, dass die allermeist­en Übergriffe auf Kinder, die sich in Asylheimen und in Flüchtling­sfamilien abspielen, nicht bekannt werden. Es gebe viele Hinderniss­e, sagt Sabine Rochel. Es scheitere oft schon an der Sprache. Viele Zuwanderer brächten zudem aus ihrer Heimat eine Skepsis gegenüber der Polizei mit. Dazu komme: Manches, was bei uns als Kindesmiss­handlung verboten sei, werde in anderen Ländern gesellscha­ftlich akzeptiert.

Mitunter werden aber auch hier Schicksale bekannt. So wie im vergangene­n Dezember, als sich eine 23-jährige Afghanin mit ihren beiden Kindern in der Wertach umbringen wollte. Sie ließ von ihrem Plan in letzter Sekunde ab und holte sich Hilfe bei Anwohnern. Der Hintergrun­d: Die Frau war verzweifel­t, weil ihr Ehemann sie immer wieder brutal misshandel­te.

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