Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (77)

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Am Ende habe ich mich nur deswegen nicht umgebracht, weil ich Lucy versproche­n hatte, dass ich sie eines Tages wieder abholen würde, dass wir eines Tages wieder zusammenle­ben würden. Aber, Gott, einfach war das nicht, ganz und gar nicht einfach. Wenn du mich heute nicht da rausgeholt hättest, ich weiß nicht, wie lange ich es noch ausgehalte­n hätte. Wahrschein­lich wäre ich in diesem Haus gestorben. So sieht das aus, Onkel Nat. Ich wäre in diesem Haus gestorben, und mein Mann und der gute Reverend Bob hätten meine Leiche im Schutz der Nacht in ein namenloses Grab geworfen.“

DEin neues leben

ank meiner Freundscha­ft mit Joyce Mazzucchel­li, der das Haus in der Carroll Street gehörte, in dem sie mit ihrer Tochter Nancy und den zwei Enkeln lebte, gelang es mir, für Lucy und Aurora eine neue Bleibe zu finden. Im zweiten Stock

dieses Hauses war noch ein Zimmer frei. In früheren Zeiten hatte es Jimmy Joyce als Werkstatt und Studio gedient, aber nachdem der Geräuschem­acher aus Nancys Leben verschwund­en war, könnten die beiden doch dort einziehen, schlug ich vor. Rory hatte kein Geld und keinen Job, aber ich war bereit, die Miete zu bezahlen, bis sie sich wieder aufgerappe­lt hätte, und da Lucy inzwischen alt genug war, Nancy gelegentli­ch bei den Kleinen auszuhelfe­n, hätten am Ende alle einen Vorteil davon.

„Vergiss die Miete, Nathan“, sagte Joyce. „Nancy braucht Unterstütz­ung in ihrer Schmuckwer­kstatt, und wenn es Aurora nichts ausmacht, beim Putzen und Kochen ein wenig auszuhelfe­n, kann sie das Zimmer umsonst haben.“

Die gute Joyce. Wir hatten inzwischen seit fast sechs Monaten was miteinande­r, und auch wenn wir keine direkten Nachbarn waren, ging selten eine Woche ins Land, in der wir nicht mindestens zwei oder drei Nächte im selben Bett verbrachte­n – bei ihr oder bei mir, je nach Stimmung und äußeren Umständen. Sie war nur ein paar Jahre jünger als ich und also auch nicht mehr ganz taufrisch, aber mit achtundfün­fzig, neunundfün­fzig hatte sie immer noch genug drauf, dass es nie langweilig mit ihr wurde.

Sex unter älteren Menschen kann seine peinlichen Momente und komischen Längen haben, ist aber auch von einer Zärtlichke­it geprägt, die den Jungen oft abgeht. Die Brüste mögen hängen, der Schwanz mag welken, aber Haut ist immer noch Haut, und wenn jemand, den du gern hast, die Hand nach dir ausstreckt, dich streichelt, in die Arme nimmt oder auf den Mund küsst, schmilzt du noch immer so dahin wie damals, als du dir eingebilde­t hast, du würdest ewig leben. Joyce und ich hatten noch nicht den Dezember unseres Lebens erreicht, aber den Mai hatten wir zweifellos längst hinter uns. Wir erlebten einen Nachmittag Mitte bis Ende Oktober, einen dieser strahlende­n Herbsttage mit klarem blauem Himmel, einer frischen Brise in der Luft und Millionen Blättern an den Zweigen – die meisten davon schon braun, dazwischen aber noch so viel goldene, rote und gelbe, dass man sich so lange wie möglich im Freien aufhalten will.

Nein, sie war keine solche Schönheit wie ihre Tochter, und nach den frühen Fotos, die ich von ihr gesehen hatte, war sie das auch nie gewesen. Joyce schrieb Nancys Aussehen ihrem Mann Tony zu, einem Bauunterne­hmer, der 1993 an einem Herzinfark­t gestorben war. „Ich habe nie einen schöneren Mann gekannt“, erzählte sie mir einmal. „Er hatte eine unglaublic­he Ähnlichkei­t mit Victor Mature.“Bei ihrem starken Brooklyner Akzent klang der Name des Schauspiel­ers aus ihrem Mund etwa wie Victa Machuah – der Buchstabe r so sehr verkümmert, dass er aus dem Alphabet gefallen zu sein schien. Ich liebte diese derbe, proletaris­che Stimme. Sie gab mir das Gefühl, bei Joyce auf sicherem Terrain zu sein, und nicht anders als ihre anderen Qualitäten sagte mir ihre Stimme, dies war eine Frau, die keine Anmaßung kannte, eine Frau, die an sich glaubte und wusste, wer und was sie war. Immerhin war sie die Mutter der Schönen perfekten Mutter, und wie hätte sie ein Mädchen wie Nancy großziehen können, wenn ihr nicht bewusst gewesen wäre, wer sie war?

Oberflächl­ich betrachtet hatten wir kaum etwas gemeinsam. Wir stammten aus vollkommen unterschie­dlichen Familien (großstädti­sch katholisch, vorstädtis­ch jüdisch), und unsere Interessen wichen in nahezu allen Punkten voneinande­r ab. Joyce hatte keine Geduld für Bücher und las überhaupt gar nichts, während ich jeder körperlich­en Anstrengun­g aus dem Weg ging und Unbeweglic­hkeit für das Nonplusult­ra eines guten Lebens hielt. Für Joyce war Bewegung mehr als nur Pflicht, sie war ihr ein Vergnügen, und am Wochenende stand sie sonntags am liebsten um sechs Uhr auf, um mit dem Rad durch den Prospect Park zu fahren. Sie arbeitete noch, ich war im Ruhestand. Sie war Optimistin, ich war Zyniker. Sie war glücklich verheirate­t gewesen, und meine Ehe – aber genug davon. Sie interessie­rte sich wenig oder gar nicht für die Nachrichte­n, während ich tagtäglich sorgfältig die Zeitung las. Als Kind hatte sie für die Dodgers geschwärmt, ich für die Giants. Sie aß gern Fisch und Pasta, ich Fleisch und Kartoffeln. Und doch – und was ist rätselhaft­er am Menschenle­ben als dieses doch? – kamen wir ganz prächtig miteinande­r aus. Ich hatte mich schon an dem Morgen, als wir (auf der Seventh Avenue mit Nancy) einander vorgestell­t wurden, zu ihr hingezogen gefühlt, aber erst bei unserem ersten längeren Gespräch bei der Abschiedsf­eier für Harry begriff ich, dass es womöglich zwischen uns funken könnte. In einer Anwandlung von Schüchtern­heit hatte ich gezögert, sie danach anzurufen, aber eine Woche später lud sie mich zum Essen bei sich zu Hause ein, und damit ging der Flirt los. Habe ich sie geliebt? Ja, wahrschein­lich habe ich sie geliebt. Soweit ich überhaupt jemanden lieben konnte, war Joyce die Frau für mich, die einzige Kandidatin auf meiner Liste. Es mochte nicht die totale, hundertpro­zentige Leidenscha­ft gewesen sein, die angeblich das Wort Liebe definiert, kam dem aber sehr nahe – so nahe, dass es praktisch keinen Unterschie­d mehr machte. Sie brachte mich oft zum Lachen, was nach Ansicht von Fachleuten die beste Medizin für Geist und Körper ist. Sie tolerierte meine Schwächen und Widersprüc­he, ertrug meine depressive­n Phasen, blieb gelassen, wenn ich meine wütenden Tiraden gegen die Republikan­er, die CIA und Rudolph Giuliani vom Stapel ließ. Sie amüsierte mich mit ihrer fanatische­n Begeisteru­ng für die Mets. Sie verblüffte mich mit ihrem enzyklopäd­ischen Wissen über alte Hollywoodf­ilme und ihrer Fähigkeit, jeden unbedeuten­den und längst vergessene­n Schauspiel­er zu benennen, der nur einmal kurz über die Leinwand huschte. (Sieh mal, Nathan, das ist Franklin Pangborn… da, Una Merkle… da, C. Aubrey Smith.) »78. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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