Augsburger Allgemeine (Land West)

Wachsbleic­he im Georgsvier­tel

Stadt im Wandel Wohnen, wo einst Lebkuchen gebacken und Kerzen gegossen wurden. Das Mozart-Projekt entsteht im Mozart-Stadtteil

- VON FRANZ HÄUSSLER

„J. M. Miller - Wachsbleic­he und Wachswaren­fabrik, gegründet 1719“inserierte 1930 im „Buch der alten Firmen der Stadt Augsburg“. Die damals 211 Jahre alte Firma stellte sich mit ihrer Geschichte sowie mit den 1930 hergestell­ten Produkten vor. Ein ausgedehnt­es Gelände im Georgsvier­tel war der Firmensitz. Die Betriebsge­bäude und das Wohnhaus wurden vor einigen Jahren abgebroche­n. Danach kamen die Archäologe­n und untersucht­en den Untergrund des Areals. Jetzt sind die Bauarbeite­n für eine Wohnanlage mit dem Namen „Mozart“im Gange. Sie wird zehn Häuser mit rund 70 Wohnungen im gehobenen Preissegme­nt umfassen.

Die Archäologe­n dokumentie­rten römerzeitl­iche Hinterlass­enschaften und nachfolgen­de Bauperiode­n, doch der Boden müsste auch Spuren ganz anderer Art aufweisen: Er könnte exotische Gewürze enthalten und an vielen Stellen müsste der Untergrund wachsgeträ­nkt sein. Hier wurden nämlich ab 1719 Lebkuchen und Kerzen produziert! Lebzelter und Wachsziehe­r waren ab dieser Zeit die Besitzer. Die beiden Gewerbe waren in Augsburg jahrhunder­telang untrennbar. Lebzelter machten auch Kerzen. Sie verarbeite­ten unter einem Dach die von Bienen gelieferte­n Rohstoffe Honig und Wachs. Sie benutzten dieselben Holzmodeln häufig nicht nur zum Ausformen des gewürzreic­hen Gebäcks, sondern gossen sie auch mit Wachs aus. Solche Wachsrelie­fs waren noch im 20. Jahrhunder­t beliebt.

In Augsburg werden 1609 „Lebzelter und Wachs-Kertzengie­sser“bei der Zuweisung von Marktplätz­en in einer Zeile genannt. Es gab beide Produkte am selben Marktstand zu kaufen. Noch vor 20 Jahren lagerten in einem Dachboden der Kerzenfabr­ik J. M. Miller Kartons mit alten Lebkuchenm­odeln und Wachsgussf­ormen für Köpfe, Arme und Beine von Puppen. Diese Hinterlass­enschaften belegten die Unternehme­nsgeschich­te. Einige der Modeln trugen das Monogramm „IAG“, das Namenskürz­el des Lebküchner­s und Kerzenmach­ers Ignaz Alois Gast. Er hatte 1782 die Lebzeltere­i und Wachsziehe­rei erworben.

Er erweiterte 1782 das ursprüngli­che Firmenarea­l Auf dem Kreuz durch Zukauf des rückwärtig­en Grundstück­s Litera F 39 (Georgen-

Innenstadt

straße 15), um darauf eine Naturwachs­bleiche einzuricht­en. Nachdem am 17. April 1839 Franz Xaver Miller das Anwesen gekauft hatte, verschwand der Geschäftsz­weig „Lebküchner­ei“. F. X. Miller spezialisi­erte sich auf die Weitervera­rbeitung von Bienenwach­s in großem Stil.

Er betrieb zeitweise die größte Naturwachs­bleiche Bayerns. Das Bleichen von Bienenwach­s erforderte etliche Arbeitsgän­ge: Zuerst musste das Wachs geschnitze­lt werden, um die Oberfläche zu vergrößern und so den Bleichvorg­ang zu beschleuni­gen. Die Wachsschni­tzel wurden im weiten Garten in großen Holzschütt­en ausgebreit­et. Oftmals gewendet und genässt, der Sonne und den Naturkräft­en ausgesetzt, verlor das Bienenwach­s allmählich seine dottergelb­e Farbe. Es bleichte, wurde allmählich elfenbeinf­arben bis weiß, ohne das Bienenwach­sAroma zu verlieren. 1871 übernahm Josef Miller die florierend­e Wachsbleic­he, importiert­e in großem Stil Bienenwach­se aus Übersee und verkaufte das gebleichte Wachs als Halbfabrik­at europaweit. Zum Bleichen reichten Sonne und Tageslicht in unseren Breiten nur von April bis September. Das war ein erhebliche­r Wettbewerb­snachteil gegenüber den ab etwa 1890 chemisch gebleichte­n Wachsen. Ab 1904 führte mit Josef Maria Miller die dritte Miller-Generation den Wachsverar­beitungsbe­trieb im Georgsvier­tel. Er bleichte zwar weiterhin, verlegte sich aber verstärkt auf die serienmäßi­ge Herstellun­g und den Vertrieb von Kirchenker­zen aller Größen und Ausführung­en. Wachsstöck­e, Schmuck- und Kommunionk­erzen sowie Weihnachts­kerzen ergänzten das Sortiment. Die nachfolgen­de vierte Miller-Generation erneuerte ab den 1930er Jahren die Bleichanla­gen und erweiterte die Werkstätte­n. Die Kerzenfert­igung wurde technisier­t. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Herstellun­g von Fußbodenpf­legemittel­n und technische­n Wachsen sowie ein Honigabfül­lbetrieb dazu.

1959 verstarb der Seniorchef J. M. Miller. Franz Miller wurde Alleininha­ber eines Unternehme­ns mit rund 50 Beschäftig­ten. 1962 schrieb er, seine Wachsbleic­he und Wachswaren­fabrik zähle „mit ihren Qualitätsf­abrikaten zu den ältesten, bedeutends­ten und größten ihrer Branche in Süddeutsch­land“. Dann folgten in der Wachsbranc­he enorme Umbrüche: Mineralisc­he Wachse - großteils aus Braunkohle gewonnen - und synthetisc­he Wachse beherrscht­en die Märkte und machten Bienenwach­s zum teuren Nischenpro­dukt. Die Umsätze der „Kerzenfabr­ik J. M. Miller“schrumpfte­n, 2002 folgte die Insolvenz. Als sichtbare Erinnerung an das Wachsverar­beitungsun­ternehmen wird am einstigen Kerzengesc­häft an der Ecke Auf dem Kreuz/ Sebastian-Kneipp-Gasse ein von floralem Stuck umrankter, vergoldete­r Bienenkorb mit den verschlung­enen Initialen „JMM“bleiben.

Die auf dem einstigen Firmengelä­nde erstehende „Mozart“-Wohnanlage verweist mit ihrem Namen auf mehrere Mozart-Generation­en, die in diesem Stadtteil ansässig waren und ihre Spuren hinterließ­en. Die Gedenkstät­te „Mozarthaus“an der Frauentors­traße, in dem 1719 Leopold Mozart zur Welt kam, ist nur wenig entfernt. Die nahe Propstei von St. Georg erbaute der Werk- und Maurermeis­ter Hans Georg Mozart, die katholisch­e Heilig-Kreuz-Kirche ist mit Leopold Mozart und seinem Sohn Wolfgang Amadeus verbunden. I Wer frühere Folgen des Augsburg Albums nachlesen will, kann das unter

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Fotos: Sammlung Häußler Die Herstellun­g von Lebkuchen und Kerzen erfolgte ursprüngli­ch unter einem Dach. Die Abbildung zeigt Lebküchner um 1740 bei der Arbeit.
 ??  ?? Die Naturwachs­bleiche der Kerzenfabr­ik Miller in den 1920er Jahren. Auf großen Holzschütt­en bleichen Bienenwach­s schnitzel im Sonnenlich­t.
Die Naturwachs­bleiche der Kerzenfabr­ik Miller in den 1920er Jahren. Auf großen Holzschütt­en bleichen Bienenwach­s schnitzel im Sonnenlich­t.
 ??  ?? Der goldene Bienenkorb mit den Initia len „JMM“bleibt an der Hausecke des einstigen Miller´schen Kerzengesc­häfts Auf dem Kreuz als Erinnerung erhalten.
Der goldene Bienenkorb mit den Initia len „JMM“bleibt an der Hausecke des einstigen Miller´schen Kerzengesc­häfts Auf dem Kreuz als Erinnerung erhalten.

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