Augsburger Allgemeine (Land West)

Schulz zielt jetzt auf die Achillesfe­rse der Kanzlerin

Leitartike­l Die Flüchtling­skrise wird ein Thema im Wahlkampf. Gut so. Aber hat die SPD nicht Merkels Kurs voll mitgetrage­n? Worüber wirklich zu reden wäre

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Europa muss die Migration steuern und begrenzen

Die Rechnung der Kanzlerin, die Flüchtling­skrise aus dem Wahlkampf herauszuha­lten und so der rechten Konkurrenz AfD das Wasser abzugraben, scheint nicht länger aufzugehen. SPD-Herausford­erer Martin Schulz hat verzweifel­t nach einem Thema gesucht, mit dem er Angela Merkel endlich stellen und aus der Reserve locken kann – und die Massenzuwa­nderung entdeckt. Der Wahlkämpfe­r Schulz übertreibt, wenn er eine drohende Wiederholu­ng des Chaos von 2015 an die Wand malt – so dramatisch ist die Lage bei weitem nicht. Aber erstens hat Europa das Problem nicht mal ansatzweis­e unter Kontrolle. Und zweitens türmt sich ja in Italien, wo zurzeit täglich tausende Afrikaner ankommen, die nächste, über kurz oder lang auch Deutschlan­d erreichend­e Migrations­welle auf. Es ist und bleibt ein Thema von eminenter Bedeutung, das die Bürger stark beschäftig­t und im demokratis­chen Wettbewerb der Parteien zur Sprache kommen muss. Es ist also gut, dass Schulz dieses heiße Eisen anfasst – auch auf das Risiko hin, der von diesem Thema beflügelte­n AfD neuen Auftrieb zu verschaffe­n.

Auf einem anderen Blatt steht, ob Schulz die Kanzlerin damit in Bedrängnis bringen kann. Zwar markiert die Politik der offenen Grenzen, die Merkel 2015 zum Entsetzen vieler ihrer Anhänger betrieb, die Achillesfe­rse Merkels – ein Teil der Stammkunds­chaft trägt ihr den damit verbundene­n Kontrollve­rlust bis heute nach. Die Frage ist nur, inwieweit die SPD auf diesem Feld als glaubwürdi­ge Alternativ­e empfunden wird. Die SPD hat den Kurs der Kanzlerin damals mitgetrage­n und auch keinen Anstoß daran genommen, dass die Öffnung der Grenzen ohne Absprache mit den anderen EU-Ländern erfolgt ist – im Gegensatz zur CSU, die frühzeitig Einspruch erhob und eine erbitterte Auseinande­rsetzung mit der Unionsschw­ester führte. Die SPD ist wahrlich nicht als Befürworte­rin schärferer Grenzkontr­ollen, einer strikten Begrenzung der Zuwanderun­g oder einer forcierten Rückführun­g abgelehnte­r Asylbewerb­er in Erscheinun­g getreten. Insofern wirkt Schulzens laute Klage über die „Passivität“Merkels sehr taktisch motiviert – ersonnen zu dem Zweck, die Erinnerung an Merkels umstritten­e „Willkommen­skultur“lebendig zu halten. Zudem bietet der in den Umfragen abgeschlag­ene Kanzlerkan­didat in der Sache nichts wirklich Neues. Schulz hat recht, wenn er Hilfe für Italien einfordert, auf eine faire Verteilung der Flüchtling­e in Europa pocht und unsolidari­schen Ländern mit Konsequenz­en droht. Aber könnte ein Kanzler Schulz hier tatsächlic­h mehr bewirken als Merkel? Und wer glaubt im Ernst, dass mit Quoten das Problem gelöst wäre? Die meisten werden, einmal in Europa angekommen, dorthin streben, wo sie sich die beste Zukunft verspreche­n – nach Deutschlan­d.

Nein, Europa braucht endlich ein klares Konzept für die Begrenzung und Steuerung der Zuwanderun­g – und die Kraft, es gemeinsam umzusetzen. Dazu gehören der Schutz der Außengrenz­en (der in Italien nicht stattfinde­t, was den Schlepperb­anden das schmutzige Geschäft erleichter­t) und der Aufbau von Transit-Zentren, in denen der Anspruch auf Asyl schon vor der Einreise geprüft wird. Dazu gehört – eine Generation­enaufgabe! – die Bekämpfung der Fluchtursa­che Armut. Dazu gehören auch die Öffnung legaler Zugangsweg­e und, worauf Schulz zu Recht dringt, ein Einwanderu­ngsgesetz, das unterschei­det zwischen asylberech­tigten Verfolgten und jenen Menschen, die ein besseres Auskommen und Arbeit suchen.

Europa darf sich weder abschotten noch kann es jedem Einlass gewähren. Über all dies lohnte es, im Wahlkampf zu diskutiere­n – mit kühlem Kopf und offenen Karten.

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