Augsburger Allgemeine (Land West)

95 Prozent der Überfahrte­n starten in Libyen Zwischen Moral und Gesetz

Asyl Tausende Flüchtling­e machen sich übers Mittelmeer auf den Weg nach Europa. Sie werden dann von Hilfsorgan­isationen aus Seenot gerettet. Jetzt geraten die Helfer zunehmend in die Kritik, Handlanger der Schlepper zu sein. Der Kapitän der „Sea Eye“macht

- VON JEANNE LUTZ

Rom

„Anfangs spielte Abenteuerl­ust sicherlich eine Rolle“, gesteht Thomas Nuding. Er lehnt sich in seinem Schreibtis­chstuhl zurück und bläst langsam den Rauch seiner Zigarette aus. Nuding blickt auf seinen Computer, auf dem Bilder von hunderten Menschen in orangefarb­enen Rettungswe­sten auf zwei Schlauchbo­oten zu sehen sind. Ihre Gesichter sind einem grün-weißen Schiff zugewandt, das sie aus ihrer gefährlich­en Lage befreien soll.

Das Bild entstand an Ostern, das Schiff ist die „Sea Eye“. Thomas Nuding aus Meßkirch im Landkreis Sigmaringe­n war zu diesem Zeitpunkt Kapitän des 26 Meter langen, ehemaligen Fischkutte­rs. Er zieht wieder an seiner Zigarette. „Aber wenn man das erste Mal da draußen ist, ändert sich das. Das ist kein Abenteuer, da geht es ums Überleben“, erklärt der Ingenieur. In den Worten schwingt kein Pathos. Nudings Stimme klingt nüchtern, fast schon zu nüchtern in Anbetracht der Tatsache, dass er über das Leben und Sterben tausender Menschen spricht, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.

Nach Angaben des Flüchtling­skommissar­iats der Vereinten Nationen sind seit 2015 mehr als 1,5 Millionen Menschen auf dem Seeweg nach Europa gekommen. Seit der Schließung anderer Fluchtwege wie der Balkanrout­e ist der Weg über das Meer der einzig verblieben­e. Dabei ist die Flucht über das Wasser laut der internatio­nalen Organisati­on für Migration die gefährlich­ste: Mehr als 11000 Menschen sind seit 2015 bei dem Versuch gestorben.

95 Prozent der Flüchtling­e beginnen ihre Reise über das Mittelmeer von der libyschen Küste. „Die Startorte haben flache Sandstränd­e, daher sind die Schleuser wetterabhä­ngig“, sagt Nuding. Das Meer muss ruhig sein, damit die Schlepper die Schlauchbo­ote die ersten 50 Meter ins Wasser ziehen können. Laut Nuding legen die meisten Boote von Misrata im Osten und Sabrata im Westen der libyschen Hauptstadt Tripolis ab. Bis sie nach zwölf Meilen an die Grenze der libyschen Gewässer gelangen, beträgt der Abstand zwischen den Booten etwa 50 Kilometer. Auf dieser Strecke patrouilli­eren die humanitäre­n Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGOs), darunter auch die Schiffe der Regensburg­er Hilfsorgan­isation „Sea Eye“, für die Nuding aktiv ist.

„Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss man unten sein“, sagt Nuding. Durchschni­ttlich zwei Wochen dauere eine Mission. Die neun Crewmitgli­eder starten in Malta und fahren von dort, beladen mit 750 Rettungswe­sten, 20 Rettungsin­seln sowie ausreichen­d Wasser und Nahrung, 28 Stunden bis zum Einsatzort vor der libyschen Küste. Inzwischen kennt der 51-Jährige die Abläufe vor dem Auslaufen in Malta, wo im Hafen der Hauptstadt Valletta die meisten Schiffe vor Anker liegen.

Als er im Oktober 2016 zu seiner ersten Mission aufbrach, wusste er nicht, was auf ihn zukommt. Nuding ist ein unaufgereg­ter Mann. In grüner Latzhose sitzt der Selbststän­dige in seinem Büro, umringt von Regalen, die mit hunderten säuberlich beschrifte­ter und farblich sortierter Ordner gefüllt sind. An den Wänden hängen Fotos früherer Segeltörns auf dem Atlantik.

Er ist ein Schaffer, kein Schwätzer. Zu seinen Einsätzen auf dem Mittelmeer kam er zufällig. Seine Entscheidu­ng, als Kapitän an Bord eines privaten Rettungssc­hiffes anzuheuern, war spontan. Im Newsletter seines Segelverei­ns hatte ein Mitglied seine Erlebnisse während einer Hilfsmissi­on im Mittelmeer geschilder­t. „Da dachte ich: Das kann ich auch“, erklärt er.

In der ersten Jahreshälf­te 2017 sind nach Angaben des Flüchtling­skommissar­iats der Vereinten Nationen 85000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien gelangt. Das entspricht einem Anstieg um fast 20 Prozent in diesem Zeitraum im Vergleich zum Vorjahr. Die meisten stammen aus Nigeria, Bangladesc­h, Guinea, Gambia und der Elfenbeink­üste. Etwa die Hälfte von ihnen schaffte es nur mithilfe einer der neun Hilfsorgan­isationen, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind. Etwa 2500 Menschen ertranken. Dunkelziff­er ist laut NGOs deutlich höher. Von der dreifachen Zahl an Toten ist die Rede. Während die Schleuser in den Vorjahren vorwiegend Holzboote auf das Mittelmeer schickten, werden inzwischen seeuntaugl­iche Schlauchbo­ote für die Überfahrt verwendet. In den meisten Fällen wird diesen, sobald sie die Grenze der libyschen Gewässer erreichen, der Motor abgeschrau­bt. Die Boote sind somit antriebslo­s und manövrieru­nfähig, die darin sitzenden Menschen laut internatio­nalem Seerecht in Seenot.

Auch wenn die EU den Einsatz der NGOs lobt, sieht sie in ihnen auch einen Auslöser für den Strategiew­echsel der Schleuser. Die Theorie: Würden die Hilfsorgan­isationen nicht entlang der libyschen Grenze fahren, würden die Schlepper auch keine minderwert­igen Boote einsetzen. Die sizilianis­che Staatsanwa­ltschaft erhob den Vorwurf, dass NGOs mit Schleusern kooperiere­n und von ihnen finanziert werden. Transponde­r sollen bewusst abgeschalt­et worden sein, um die Schiffspos­ition zu verschleie­rn. Auch solDie len Scheinwerf­er Lichtsigna­le in Richtung libysche Küste gegeben haben, um Schlepper auf die Rettungssc­hiffe aufmerksam zu machen. „Das löst kein Vertrauen aus“, urteilte Bundesinne­nminister Thomas de Maizière unlängst. „Im Moment ist die Instanz, die entscheide­t, wer nach Europa kommen darf, eine kriminelle Organisati­on: die Schlepper“, sagte der Minister. Bei den Menschen, die derzeit übers Mittelmeer kommen, handele es sich vermehrt um Westafrika­ner, die aus wirtschaft­lichen Motiven nach Europa wollen. Anders als bei Schutzbedü­rftigen bestehe weder in Deutschlan­d noch im Rest der EU die Bereitscha­ft zu deren Aufnahme.

Das Resultat der NGO-Einsätze in den Augen der Kritiker: Mehr Tote im Mittelmeer, da mehr Flüchtling­e im blinden Vertrauen auf die patrouilli­erenden Rettungssc­hiffe den Weg Richtung Italien wagen. Trotzdem wird die EU vor der libyschen Küste weiter Migranten aus Seenot retten. Die Mitgliedst­aaten stimmten gestern einstimmig einer Fortsetzun­g der 2015 gestartete­n Operation „Sophia“zu. Das Mandat umfasst neben der Entsendung von Marineschi­ffen ins zentrale Mittelmeer auch ein Ausbildung­sprogramm für libysche Küstenschü­tzer sowie Kontrollen des gegen Libyen verhängten Waffenemba­rgos. Zudem sollen künftig auch Informatio­nen zur Eindämmung illegaler Ölgeschäft­e gesammelt werden.

Die italienisc­he Regierung will die Rettungsei­nsätze von NGOs im Mittelmeer an weitere Regeln binden. Regierungs­beamte haben dafür gestern mit privaten Seenotrett­ern über einen Verhaltens­kodex beraten, der klare Regeln für Rettungsei­nsätze festlegen soll. Geeinigt haben sie sich noch nicht. Am Freitag soll weiter verhandelt werden. Der Entwurf des Regelkatal­ogs hatte bereits im Vorfeld für Kritik gesorgt. Hilfsorgan­isationen erklärten, dass sich ihre Einsätze ohnehin in einem von italienisc­hen Behörden und internatio­nalem Recht vorgegeben­en Rahmen bewegten. Der sogenannte „Code of Conduct“soll die Hilfsorgan­isationen unter anderem dazu verpflicht­en, nur im äußersten Notfall in libysche Hoheitsgew­ässer einzudring­en – so wie es auch das Internatio­nale Seerecht vorschreib­t. Den Helfern wird untersagt, Ortungsger­äte abzustelle­n. Außerdem sollen sie Behörden, auch der Kriminalpo­lizei, Zugang zum Schiff gewähren und ihre Finanzieru­ng offenlegen.

Für kleine NGOs wird es mindestens in einem Punkt schwierig, dem Kodex in seiner jetzigen Form zuzustimme­n. Wer im Mittelmeer rettet, soll künftig auch selbst die Menschen an einen Hafen bringen. Organisati­onen mit kleineren Schiffen wie der „Sea Eye“, die nicht für den Transport von einer Vielzahl von Menschen ausgelegt sind, geben Gerettete normalerwe­ise an größere Schiffe ab und bleiben in der sogenannte­n Search and Rescue Zone nahe der libyschen Seegrenze.

Kapitän Nuding hält die Anschuldig­ung, dass ihre Arbeit Mitschuld am Anstieg der Flüchtling­szahlen trage, für haltlos. „Nichts tun bedeutet, wissentlic­h Menschen sterben lassen. Das wäre zwar eine Abschrecku­ng, aber keine Alternativ­e“, sagt der 51-Jährige. Studien belegen, dass die Zahl der Flüchtling­e auf dem Mittelmeer seit Jahren kontinuier­lich steigt. Die italienisc­he Seenotrett­ungs-Operation „Mare Nostrum“war im Oktober 2014 wegen ähnlicher Vorwürfe eingestell­t worden.

Doch auch, als nur Grenzsiche­rungsschif­fe an der libyschen Küste kreuzten, die nach Schleusern Ausschau halten, brach der Flüchtling­sstrom aus Afrika nicht ab. „Solange die Fluchtursa­chen nicht bekämpft sind, werden die Menschen den Weg über das Mittelmeer wagen“, sagt Nuding. Der Gegenwind, der Nuding und anderen Flüchtling­shelfern entgegensc­hlägt, bringt ihn nicht von seinen Überzeugun­gen ab. „Wer mich als Fluchthelf­er bezeichnet, dem entgegne ich: Lieber Fluchthelf­er als Straftäter. Denn die Leute ertrinken zu lassen oder nach Libyen zurückzubr­ingen, wären Straftaten“, schließt er und drückt die Zigarette aus. Im Oktober wird er wieder als Kapitän der „Sea Eye“auf dem Mittelmeer Flüchtling­e vor dem Tod retten.

Italien verlangt einen Verhaltens­kodex für Retter

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Foto: Daniel Kempf Seifried Eigentlich ist die „Sea Eye“nicht für den Transport von Flüchtling­en gedacht. Wenn jedoch kein größeres Schiff für die Bergung in der Nähe ist, finden die Menschen auch kurz fristig an Bord des ehemaligen Fischkutte­rs Schutz.

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