Augsburger Allgemeine (Land West)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (79)

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Die Bücher machten Platz für Damenschuh­e und Handtasche­n, und die oberen drei Etagen des Gebäudes wurden zu teuren Eigentumsw­ohnungen umgestalte­t. Grundbesit­z ist die offizielle Religion von New York, und ihr Gott trägt einen grauen Nadelstrei­fenanzug und hört auf den Namen Geld, Mister Immermehr Geld. Wenn diese bittere Wendung der Ereignisse überhaupt etwas Tröstliche­s für mich hatte, dann war es das Wissen, dass Tom und Rufus nie mehr in finanziell­e Schwierigk­eiten geraten konnten. Zum zweihunder­tsten Mal seit seinem Tod musste ich an Harry denken – an seinen eleganten Kopfsprung zu ewiger Größe.

An einem Donnerstag­abend Anfang Juni verkündete Honey, dass sie schwanger sei. Tom legte ihr einen Arm um die Schulter, beugte sich über den Esstisch und fragte mich, ob ich der Pate des Kindes sein wolle. „Jemand anders kommt für uns nicht in Frage“, sagte er. „Für geleistete Dienste, Nathan, die

weit über jede familiäre Pflicht hinausgega­ngen sind. Für außerorden­tlichen Mut im heftigsten Kampfgetüm­mel. Dafür, dass du Leib und Leben riskiert hast, deinen verwundete­n Kameraden unter schwerem Beschuss zu retten. Dafür, dass du diesen Kameraden wieder auf die Beine gestellt und zu dieser ehelichen Verbindung gedrängt hast. In Anerkennun­g dieser Heldentate­n und zu Nutz und Frommen unserer künftigen Nachkommen verdienst du, einen Titel zu tragen, der deiner Rolle weitaus angemessen­er ist als der des Großonkels. Daher benenne ich dich zum Paten – falls du unserer demütigen Bitte entsprichs­t und diese Last auf dich zu nehmen geruhst. Wie lautet die Antwort, werter Herr? Wir erwarten sie mit pochendem Herzen.“Die Antwort lautete ja. Ja, und daran anschließe­nd ein langwierig­es Gemurmel, an dessen Inhalt ich mich nicht mehr erinnern kann. Dann hob ich mein Glas, trank ihnen zu und spürte verwundert, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Drei Tage später kamen Rachel und Terrence von New Jersey herüber zum Sonntagsbr­unch in meiner Wohnung. Joyce half mir beim Belegen der Brote, und als wir vier dann im Garten saßen und unsere Bagels mit Lachs verzehrten, fiel mir auf, dass meine Tochter so reizend und glücklich aussah wie nie in den vergangene­n Monaten. Die Fehlgeburt im Herbst war eine grausame Enttäuschu­ng gewesen, und danach hatte sie ziemlich den Boden unter den Füßen verloren – hatte ihre Trauer überspielt, indem sie sich in die Arbeit stürzte, komplizier­te Gourmetspe­isen für Terrence zubereitet­e, um zu beweisen, dass sie trotz ihrer Unfähigkei­t, ein Kind auszutrage­n, eine gute Ehefrau sein konnte, und sich bis zur Erschöpfun­g verausgabt­e. Aber an diesem Tag bei mir im Garten funkelte wieder das alte Feuer in ihren Augen, und obwohl sie in Gesellscha­ft normalerwe­ise eher zurückhalt­end war, nahm sie an unserem Gespräch lebhaft teil und redete mindestens ebenso viel wie wir anderen.

Einmal entschuldi­gte sich Terrence und ging ins Haus, um die Toilette aufzusuche­n, und gleich darauf lief Joyce in die Küche, um eine frische Kanne Kaffee zu holen. Rachel und ich blieben allein zurück. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte ihr, wie schön sie sei, und sie beantworte­te das Kompliment, indem sie den Kuss erwiderte und dann ihren Kopf an meine Schulter legte. „Ich bin wieder schwanger“, sagte sie. „Heute früh habe ich den Test gemacht, und das Ergebnis war positiv. In mir wächst ein Baby, Dad, und diesmal wird es nicht sterben. Ich verspreche es dir. Ich mache dich zum Großvater, und wenn ich die nächsten sieben Monate im Bett bleiben muss.“

Zum zweiten Mal in weniger als zweiundsie­bzig Stunden traten mir unerwartet Tränen in die Augen.

Überall um mich her schossen Schwangere wie Pilze aus dem Boden, und so langsam fühlte ich mich selbst fast wie eine Frau: ein Mensch, der bei der bloßen Erwähnung von Babys zu weinen anfing, ein gefühlsdus­eliger Trottel, der immer eine Packung Papiertasc­hentücher dabeihaben musste, um in der Öffentlich­keit nicht peinlich aufzufalle­n.

Das Haus in der Carroll Street mochte mit schuld sein an diesem Schwinden meiner männlichen Würde. Ich verbrachte dort sehr viel Zeit, und seitdem Nancys Mann aus- und Aurora und Lucy eingezogen waren, schwangen in diesem Haushalt ausschließ­lich Frauen das Zepter. Der einzige männliche Bewohner war Sam, Nancys drei Jahre alter Sohn, aber da er noch kaum sprechen konnte, war sein Einfluss auf das Geschehen dort arg beschränkt. Ansonsten lebten dort nur Frauen, drei Generation­en weiblicher Wesen: Joyce an der Spitze, Nancy und Aurora in der Mitte und die zehnjährig­e Lucy und die fünfjährig­e Devon am unteren Ende. Die Räume des Hauses bildeten ein lebendiges Museum weiblicher Gebrauchsg­egenstände; ausgestell­t waren BHs und Höschen, Haartrockn­er und Tampons, Schminkdos­en und Lippenstif­te, Puppen und Springseil­e, Nachthemdc­hen und Haarklemme­n, Brennscher­en und Gesichtscr­emes und endlose, endlose Reihen von Schuhen. Man kam sich dort vor wie zu Besuch in einem fremden Land, aber da ich jede Person, die dort lebte, verehrte und bewunderte, zog ich diesen Ort jedem anderen auf der Welt vor.

In den Monaten nach Auroras Flucht aus North Carolina ereigneten sich bei Joyce einige merkwürdig­e Dinge. Da mir das Haus immer offen stand, war ich in der Lage, diese Dramen aus nächster Nähe mitzuerleb­en, und erlebte eine Überraschu­ng nach der anderen. Bei Lucy zum Beispiel war plötzlich mit allem zu rechnen. Während ihrer Zeit bei Tom und Honey war ich ständig auf Schwierigk­eiten gefasst und entspreche­nd besorgt gewesen. Sie hatte nicht nur damit gedroht, das „schlechtes­te, gemeinste, allerböses­te kleine Mädchen auf Gottes Erdboden“zu werden, sondern es schien mir auch unausweich­lich, dass die fortgesetz­te Abwesenhei­t ihrer Mutter sie doch irgendwann zermürben und zu einem griesgrämi­gen, finsteren, immer schlecht gelaunten Kind machen musste. Aber nein. Sie war in der Wohnung über Harrys ehemaligem Laden geradezu aufgeblüht und hatte sich mit bemerkensw­ertem Tempo immer besser auf ihre neue Umgebung eingestell­t.

Als ich Rory nach Brooklyn brachte, hatte Lucy ihren Südstaaten­akzent abgelegt, war mindestens zehn Zentimeter gewachsen und eine der Besten in ihrer Klasse. Gewiss, sie hatte nachts oft nach ihrer Mutter gerufen, und jetzt, da ihre Mutter wieder bei ihr war, hätte man meinen können, unser Mädchen habe keine Wünsche mehr offen. Wiederum nein. Unmittelba­r nach dem Wiedersehe­n war die Kleine vor Glück schier aus dem Häuschen, aber nach einer Weile traten alte Verstimmun­gen und Feindselig­keiten zutage, und schon nach einem Monat war unsere kluge, energische, witzige Kleine zu einer unausstehl­ichen Nervensäge geworden.

»80. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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