Augsburger Allgemeine (Land West)

Der schlimmste Tag seines Lebens

Flugzeugab­sturz Wie Norbert Müller aus Lagerlechf­eld nach 15 Jahren über das schrecklic­he Ereignis denkt

- VON REINHOLD RADLOFF

Schwabmünc­hen

Plötzlich wirbelte es den Ultraleich­tflieger bei der Platzrunde über dem Schwabmünc­hner Flugplatz wie ein Spielzeug durch die Luft, das Gerät stürzte wie ein Stein zu Boden und zerschellt­e, mit dem Piloten an Bord. Dieses schrecklic­he Ereignis hat sein Leben verändert. Genau 15 Jahre später spricht Norbert Müller nun darüber.

Samstag, 27. Juli 2002: anscheinen­d ideales Flugwetter, 20 Grad Außentempe­ratur, Windstille. Strahlende­r Sonnensche­in. Norbert Müller kommt auf den Flugplatz Schwabmünc­hen und möchte mit seinem Ultraleich­tflugzeug, das er gerade erst aus Afrika überführen hatte lassen, Platzrunde­n üben. Beim ersten Mal geht alles gut, keinerlei Auffälligk­eiten. Der Lagerlechf­elder ist ein sehr erfahrener Pilot, der schon 640 Stunden ohne Probleme auf seinem „Aero-Trike“absolviert hat, eine Art motorisier­ter Drachenseg­ler.

Um sicherzuge­hen, dass alles in Ordnung ist, startet er noch einmal. 13.29 Uhr: Es geht ganz schnell. Bei etwa 75 Stundenkil­ometern im Anflug auf den Flugplatz zu ergeben sich plötzlich Probleme für Müller: „Auf einmal hat sich die Welt um mich gedreht. Ich kam aus heiterem Himmel ins Flachtrude­ln und wollte gegensteue­rn. Doch das funktionie­rte überhaupt nicht.“Da erinnert sich der Pilot an seinen Fluglehrer, der ihm auch ein paar Kunstflugt­ricks beigebrach­t hat: „Ich gab Vollgas, um durchzusta­rten. Dadurch bekam ich einen Strömungsa­briss auf der Oberseite der Tragfläche­n. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Ich stürzte mit der Maschine, ohne etwas dagegen tun zu können, zu Boden. Als ich einschlug, gingen bei mir die Lichter aus.“Dann erinnert er sich erst wieder an die Notärztin mit lockigen Haaren, die ihn ins künstliche Koma versetzte.

Wie er sich bei dem Absturz fühlte? „Ich hab’ einfach auf die Probleme reagiert, sonst nichts. Zeit für Angst hatte ich nicht“, erzählt er scheinbar emotionslo­s von dem schlimmste­n Moment in seinem Leben, der ihn anscheinen­d nicht nachhaltig beeindruck­t hat.

Warum es zu dem Absturz kam? Eine technische, menschlich­e oder materielle Erklärung gibt es bis heute nicht. Sowohl das Flugzeug als auch sein Pilot wurden genauesten­s untersucht: keine Auffälligk­eiten. Müller hat aber eine Vermutung:

„Ich schiebe es auf eine sogenannte Luftwalze: Sie kann entstehen, wenn am Boden sehr gegensätzl­iche Wachstumsv­erhältniss­e herrschen.“Ein abgemähtes Getreidefe­ld grenzte damals direkt an eine Wiese. So können unterschie­dliche Aufwinde entstehen. Dort, wo die beiden Felder aneinander­grenzen, flog Müller. Die Luftverwir­belungen entlang dieser Linie könnten zu dem Absturz geführt haben. Als Müller nach vielen Operatione­n aus dem künstliche­n Koma geholt werden sollte, klappte das nicht: Er blieb zunächst in einem Wachkoma stecken. Während dieser Zeit passierten ganz erstaunlic­he Dinge: „Ich habe meine Träume und Ideen aufgeschri­eben, und zwar in bestem Deutsch, zum Beispiel: Macht euch keine Sorgen. Ich bin tot.“

Als er aufwachte, erkannte er sein Gesicht kaum: „Mir hatte man 19 Titanplatt­en in den Kopf implantier­t und eine neue Nase modelliert.“

Das Gefühl, dass er mindestens ein Jahr seines Lebens verschlafe­n habe, trügte: Es waren nur etwa drei Wochen. „Als ich zu mir kam, konnte ich weder sprechen noch sitzen, ganz zu schweigen von gehen. Auf einem Auge war ich blind, mein Rücken war kaputt und massenhaft Knochenbrü­che heilten gerade aus.“Über all das berichtet er ganz neutral.

Wie er heute über seinen Absturz denkt? „Ich habe in meinem Leben unglaublic­h Schlimmes bei Hilfseinsä­tzen erlebt, habe aber auch in Afrika viel Tolles erfahren dürfen. Ich denke immer wieder, dass ich mit dem Absturz die Rechnung da- für bezahlen musste.“Müller war nach einer gescheiter­ten Ehe viele Jahre in Afrika als Prüfer für Luftfahrze­uge tätig, hatte eine Reihe von Pilotensch­einen, flog Einsätze für das internatio­nale Rote Kreuz und die Vereinten Nationen in schlimmen Krisengebi­eten.

Nach dem Unfall änderte sich das Leben Müllers völlig. Er war lange krank, konnte nur noch bedingt in seinem Beruf als Flugzeugte­chniker arbeiten und durfte aufgrund seiner teilweisen Erblindung nicht mehr selbst mehr fliegen. Trotzdem meint er: „Ich bereue nichts, was ich in meinem fliegerisc­hen Leben erfahren habe.“

Nach wie vor setzt er sich, beruflich oder privat, gerne in Flugzeuge und genießt es, durch die Lüfte zu gleiten. Nervös in einem Flieger war er insgesamt nur zweimal: beim ersten Take-off und der ersten Landung nach seinem dramatisch­en Absturz.

Übrigens: Viele Jahre nach seinem Flugzeugab­sturz erlebte er noch einmal einen schlimmen Unfall, der ihn bis heute zur Arbeitsunf­ähigkeit verdammt: „Ich arbeitete in Libreville in Gabun an einer Maschine, als plötzlich die Arbeitsbüh­ne unter mir zusammenbr­ach.“Ob er jemals wieder richtig gehen können wird, das weiß er noch nicht.

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Foto: Reinhold Radloff Das ist das Einzige, was Norbert Müller von seinem Ultraleich­tflieger blieb, mit dem er vor 15 Jahren abgestürzt ist: der Propeller.

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