Augsburger Allgemeine (Land West)

Tief ergreift das Schicksal des Odysseus

In Salzburg setzt der Dirigent John Eliot Gardiner erneut auf die Macht der Musik. Davon profitiert ein Jubilar

- AUS SALZBURG BERICHTET STEFAN DOSCH

Seit den Kindertage­n der Oper hat ihre Schöpfer, aber auch das Publikum immerzu die Frage gezwickt: Prima la musica e poi le parole (um den Titel einer Salieri-Oper zu zitieren)? Gebührt in der Oper der Musik der Vorrang oder dem gesungenen Wort? Heutzutage muss man das alternativ­e Paar um einen weiteren Gegensatz ergänzen: um die Szene, die Ebene der Regie. Hat sie in der aktuellen Wahrnehmun­g der Oper doch derart an Bedeutung gewonnen, dass es manchmal den Anschein hat, Musik und Wort seien ins Hintertref­fen geraten.

Dirigenten der älteren Generation hört man gelegentli­ch über diesen Bedeutungs­schwund klagen, und ein solcher Gedanke mag wohl auch in John Eliot Gardiners Entscheidu­ng mitgewirkt haben, zum 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi seine drei erhaltenen Opern halbszenis­ch aufzuführe­n. Empfindet es der 74-jährige Dirigent doch „als einengend“, wie er sagt, „dass das Auge wichtiger sei als das Ohr“. Und so ist bei Gardiners Monteverdi-Zyklus in Salzburg die Szene nur Dienerin, was die Frage aufwirft: Trägt diese Entscheidu­ng?

Nach dem Auftakt mit „Orfeo“und noch vor der finalen „Incoronazi­one die Poppea“war der Lackmustes­t für Gardiners Unternehme­n „Il ritorno d’Ulisse in patria“, Monteverdi­s Oper über die nach langer Irrfahrt erfolgende Rückkehr des Troja-Kämpfers Odysseus in seine Heimat Ithaka und die dortige Wiederbege­gnung mit seiner Frau Penelope. Denn entgegen den beiden anderen Opern hat Gardiner den „Ulisse“für sein Jubiläumsp­rojekt erstmals einstudier­t.

Die Odysseus-Geschichte vor der Naturkulis­se der Salzburger Felsenreit­schule also mit einem guten Dutzend Sängern, die, in nur leicht antikisier­enden Gewändern, ihren gesungenen Text mit stilisiert­en Bewegungen begleiten und sich zumeist vor, hinter oder zwischen dem auf der Bühne platzierte­n Orchester bewegen: Natürlich vermag diese hal- be Szene keine Interpreta­tion des Geschehens zu liefern, wie das gerade etwa der durchinsze­nierte Salzburger Mozart-„Titus“tut. Besitzt der „Ulisse“deshalb weniger Relevanz? Gardiner, nicht nur Dirigent, sondern (mit Elsa Rooke) auch als Regisseur verantwort­lich für die Aufführung, vertraut auf die Kraft des Mythos, auf das Überzeitli­che, das in der Heimkehrer­geschichte steckt; vertraut auf die Macht der „Fantasie“(Gardiner), die das Geschehen einer mythischen Vergangenh­eit so zu wandeln vermag, als fände es im Heute statt.

Dass dieser Transforma­tionsproze­ss ohne vollszenis­che Hilfe gelingt, ist nicht zuletzt eine Leistung von Monteverdi­s Musik, die ja selbst schon aus der Zeitenfern­e kommt, aber eben, wie alle große Kunst, durch Zeitgrenze­n schreitet. Da Gardiner die Partitur des „Ulisse“mit größter Bedachtsam­keit zelebriert – was die Netto-Aufführung über drei Stunden treibt –, vermag auch das Wort plastisch hervorzutr­eten, wodurch sich, in wechselwei­sem Ineinander­greifen, die ganze affektive Kraft des „recitar cantando“, des singenden Erzählens entfaltet.

Das geht nicht ohne Sänger, die auch etwas zu sagen haben, und für Gardiner hat gerade bei den Protagonis­ten vokaler Schönklang keine primäre Bedeutung. Furio Zanasis Bariton besitzt schon reife Noten, und so ist die Stimme auf natürliche Weise immer auch Resonanzra­um für Ulisses Erfahrunge­n von Krieg und Irrfahrt. Lucile Richardot als Penelope sucht das Pathos in der Betonung der Dissonanz, lässt ihren Mezzosopra­n die herben Klagetöne einer Verlassene­n hervorstoß­en. Wie auch in den beiden anderen Opern zeigt sich das gesamte Sänger-Ensemble auf hohem Niveau, begleitet von den English Baroque Soloists, deren silbriger Orchesterk­lang manchmal jedoch etwas Kathedrale­nkühle verströmt. Trotzdem: John Eliot Gardiners zyklisches Monteverdi-Projekt ist nicht nur ein angemessen­er Geburtstag­sgruß für den ersten großen Komponiste­n der Operngesch­ichte; es ist auch ein Meilenstei­n in der Karriere dieses herausrage­nden Dirigenten der Alten Musik.

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Foto: picture alliance Kopf des Odysseus, Marmorskul­ptur (1. Jh. v. Chr.) aus Sperlonga.

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