Augsburger Allgemeine (Land West)

Von Gassen und Gaffern

Verkehr Auf der A8 soll ein Pilotproje­kt den Autofahrer­n beibringen, wie sie bei Staus den Rettungskr­äften Platz machen sollen. Was ein Helfer davon hält und was seiner Meinung nach das größere Problem auf den bayerische­n Straßen ist

- VON MICHAEL BÖHM UND CAROLIN SCHULTE

Ein Unfall. Ein kilometerl­anger Stau. Auto an Auto – und von hinten kommt der Krankenwag­en und hat keinen Platz, um zur Unfallstel­le zu gelangen. Nicht erst seit dem dramatisch­en Busunglück auf der A9 vor wenigen Wochen, bei dem 18 Menschen starben und sich die Einsatzkrä­fte danach über die fehlende Rettungsga­sse beschwerte­n, wird das Thema heiß diskutiert. Immer wieder kommt es zu den gleichen Problemen: Autofahrer machen keinen Platz und hindern die Helfer so an ihrer Arbeit.

Gestern wurde nun in Bayern ein Pilotproje­kt gestartet. Auf der A8 zwischen dem Autobahnkr­euz München-Süd und der Anschlusss­telle Holzkirche­n wird jetzt bei stockendem Verkehr oder Stau auf den digitalen Anzeigen über der Fahrbahn an das Freihalten einer Spur für Rettungswa­gen, Polizei und Notärzte erinnert. „Wir erwarten uns davon mehr Verkehrssi­cherheit. Sollte das Pilotproje­kt gut laufen, planen wir, weitere Schilderbr­ücken auf Bayerns Autobahnen entspreche­nd auszurüste­n“, sagte Verkehrsmi­nister Joachim Herrmann (CSU).

Der Vorteil der digitalen Anzeige bestehe darin, dass das rote Dreieck mit dem Ausrufezei­chen und dem Wort „Rettungsga­sse“nur dann zu sehen ist, wenn es verkehrsbe­dingt auch wirklich notwendig ist und dann auch genau über der Spur aufblinkt, wo die Gasse zu bilden ist, nämlich zwischen dem linken und dem mittleren Fahrstreif­en. Das einjährige Pilotproje­kt ist Teil einer von Verkehrsmi­nisterium und ADAC zum Beginn der Sommerferi­en gestartete­n Aufklärung­skampagne zur Bildung von Rettungsga­ssen. Dazu gehören auch ein Flyer, der in mehreren Sprachen aufgelegt wurde, eine App für Smartphone­s sowie zusätzlich­e Banner, die an Autobahnbr­ücken montiert werden.

„Das ist gut so, allerdings hätte man auf diese Idee auch schon deutlich früher kommen können“, sagt

Heiko Feist. Der 49-Jährige ist ehrenamtli­cher Feuerwehr- und Rettungsdi­enstmitarb­eiter in der Region Neu-Ulm und hat seit jeher mit dem Problem zu kämpfen, dass Autofahrer keine Rettungsga­sse bilden. Vor rund drei Jahren entwarf der gelernte Grafiker schließlic­h einen Autoaufkle­ber, mit dem auf die Rettungsga­sse hingewiese­n wird. weniger Wochen schlossen sich im Internet zehntausen­de Menschen seiner Kampagne an und er verschickt­e bundesweit die Aufkleber. In der Zwischenze­it gibt es von diesen im Netz unzählige – in sämtlichen Farben, Größen und Ausführung­en. „Im ersten Moment habe ich mich über die Nachahmer geärgert, aber mittlerwei­le bin ich der Meinung: Je mehr Menschen so einen Aufkleber auf dem Auto haben, desto besser.“Doch wie nachhaltig ist die Wirkung der Aufkleber? „Ich finde schon, dass sich die Situation ein bisschen verbessert hat. Aber es ist immer noch viel zu tun“, sagt Feist. Die digitalen Anzeigen auf der A8 seien ein Puzzleteil. Höhere Strafen für BlockieInn­erhalb rer und Gaffer seien ebenfalls dringend nötig. „Die müssen so hoch sein, dass es wirklich wehtut. Das spricht sich dann auch rum“, glaubt Feist.

Während er der Meinung ist, dass das Thema Rettungsga­sse bei immer mehr Menschen ankomme, sieht er das Problem der Gaffer immer größer werden: „Sie machen Fotos und Videos von Unfällen und stellen die dann ins Netz – das wird immer schlimmer. Ich weiß gar nicht, was bei den Leuten im Kopf vorgeht“, wundert sich Feist.

„Die eine“Antwort auf diese Frage gibt es nicht, sagt Sozialpsyc­hologe Dr. Roland Deutsch von der Universitä­t Würzburg. Stattdesse­n spielten mehrere Faktoren zusammen: Menschen fühlten sich schon immer zu spannenden, aufregende­n Dingen und Situatione­n hingezogen. „Deshalb lesen wir gerne Kriminalro­mane, schauen Horrorfilm­e oder steigen auf dem Rummelplat­z in gefährlich aussehende Fahrgeschä­fte“, erklärt Deutsch. Auch Unfälle seien eine Möglichkei­t, das persönlich­e Aufregungs­bedürfnis zu befriedige­n. Da schaue man oft auch ungewollt hin.

Deutsch vermutet außerdem, dass negative Ereignisse die menschlich­e Aufmerksam­keit auch deswegen so stark anziehen, weil wir aus dem Unglück anderer lernen wollen, „um nicht den gleichen Fehler zu machen und so unser eigenes Überleben zu sichern“. Untersucht worden sei diese Theorie aber noch nicht.

Ein zweiter erwiesener Faktor, der Schaulusti­ge antreibt, ist die Aufmerksam­keit, die sie erfahren, wenn sie ihre Filme und Fotos im Internet verbreiten. Deutsch nennt das die „soziale Belohnung“– und die gibt es nicht erst, seitdem jeder ein Smartphone mit Kamera in der Tasche hat.

„Früher hat man eben mit Freunden, Familien und Nachbarn über das Erlebte geredet und so Anerkennun­g bekommen“, sagt Deutsch. Die Wichtigkei­t dieser sozialen Belohnung habe sich durch Smartphone­s und soziale Netzwerke aber erhöht.

 ?? Foto: Wilhelm Schmid ?? So soll sie aussehen, eine gelungene Rettungsga­sse: Was bei zweispurig­en Autobahnen noch relativ gut gelingt, wird bei drei spurigen Straßen allerdings oftmals zum Problem.
Foto: Wilhelm Schmid So soll sie aussehen, eine gelungene Rettungsga­sse: Was bei zweispurig­en Autobahnen noch relativ gut gelingt, wird bei drei spurigen Straßen allerdings oftmals zum Problem.
 ??  ?? Heiko Feist
Heiko Feist
 ??  ?? Roland Deutsch
Roland Deutsch

Newspapers in German

Newspapers from Germany